21.11.2016 Am Sonntag sterben mehr als 140 Menschen bei einem schweren Zugunglück. Die wirkliche Gefahr lauert in Indien aber im Alltag. Die Infrastruktur ist hoffnungslos überlastet. Neu Delhi (dpa) – Die blauen Waggons der indischen Eisenbahn haben Kultcharakter. Sie prägen das Bild des Landes in Filmen, Büchern und den Blogeinträgen unzähliger Touristen. Doch in der […]

21.11.2016

Am Sonntag sterben mehr als 140 Menschen bei einem schweren Zugunglück. Die wirkliche Gefahr lauert in Indien aber im Alltag. Die Infrastruktur ist hoffnungslos überlastet.

Neu Delhi (dpa) – Die blauen Waggons der indischen Eisenbahn haben Kultcharakter. Sie prägen das Bild des Landes in Filmen, Büchern und den Blogeinträgen unzähliger Touristen. Doch in der Nacht zum Sonntag wurden sie zur tödlichen Falle. Als der Patna-Indore-Express um kurz nach 3.00 Uhr am Morgen im nordindischen Uttar Pradesh verunglückte, sprangen 14 Waggons aus dem Gleisbett. Bilder zeigen, wie die Wagen – teilweise völlig zerquetscht – auf und neben dem Bahndamm liegen, umringt von Rettungskräften. Bis Montag erklärte die Polizei 142 der bis zu 2500 Passagiere für tot.

Offiziell gibt es noch keinen Kommentar zur Unfallursache. Ein marodes Gleisbett könnte den Zug zum Entgleisen gebracht haben, hieß es am Sonntag jedoch aus dem Eisenbahnministerium. Bis zu 80 Mal passiert das laut offiziellen Statistiken im Jahr.

Doch selbst solche Unfälle wie der vom Wochenende verblassen angesichts der Gesamtzahl der Menschen, die in Indien auf Reisen ums Leben kommen. Fast 30 000 starben laut einer Auswertung des National Crime Records Bureau im Jahr 2014 auf Indiens Schienen – allerdings die meisten von ihnen nicht bei schweren Unfällen, sondern weil sie schlicht von Zügen überfahren wurden oder während der Fahrt aus den völlig überfüllten Abteilen fielen.

Indiens Bahnnetz wird häufig als «Lebensader der Nation» bezeichnet. Mit oft vier oder fünf verschiedenen Wagenklassen können sich selbst Inder mit sehr niedrigem Einkommen lange Fahrten leisten. Täglich transportieren mehr als 12 000 Züge rund 23 Millionen Passagiere auf einem 90 000 Kilometer langen Streckennetz. Allerdings sind die Züge meist Monate im Voraus ausgebucht, und die günstigsten Klassen sind chronisch überfüllt – was die Opferzahlen bei Unfällen in die Höhe treibt.

Ähnlich sieht es bei den lokalen Bahnen in Mumbai aus. Täglich reisen mehr als sieben Millionen Menschen mit den Bahnen, die die Finanzmetropole Mumbai mit ihren Vororten verbinden. Ursprünglich gebaut wurde das System im 19. Jahrhundert. Zu Stoßzeiten sind die Wagen so überfüllt, dass die Passagiere sich außen an die Waggons hängen. Die Türen lassen sich sowieso nicht schließen. Laut offiziellen Angaben starben im vergangenen Jahr 3300 Menschen, während sie die lokalen Bahnen benutzten – auch hier meist nicht bei großen Unfällen, sondern weil sie von den Bahnen fielen oder von ihnen überrollt wurden.

Noch deutlich schlimmer sieht es auf Indiens Straßen aus. Mehr als 140 000 Menschen sterben jedes Jahr bei Unfällen. Die mit Abstand häufigsten Unfallursachen sind laut NCRB zu hohe Geschwindigkeit und ein gefährlicher Fahrstil. «Unser Ziel ist es, die Zahl der Straßenunfälle in den kommenden zwei Jahren zu halbieren», sagte Transportminister Nitin Gadkari erst Ende Oktober bei einer Veranstaltung zur Straßensicherheit. Dazu wolle man unter anderem die Fahrer besser aufklären und die Infrastruktur verbessern. Damit das gelingt, müsste er allerdings einen deutlichen Negativtrend umkehren. Von 2010 bis 2015 stieg die Zahl der Toten auf Indiens Straßen von 134 000 auf 146 000.

Auch der Ausbau der Infrastruktur stößt immer wieder auf Probleme. In den großen Metropolen wie Neu Delhi oder Mumbai fehlt schlicht der Platz für neue Straßen. Selbst der Flughafen in Mumbai ist betroffen. Weil er nur eine Start- und Landebahn hat, muss er zurzeit regelmäßig für mehrere Stunden am Tag schließen, damit dort Wartungsarbeiten ausgeführt werden können. In Neu Delhi entlastet seit einigen Jahren eine moderne unterirdische Metro die Straßen – trotzdem sind diese zur Stoßzeit völlig verstopft.

Noch am Sonntag nach dem schweren Unfall kündigte Bahnminister Suresh Prabhu an, die Verantwortlichen zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Gegen überfüllte Züge wird das aber nicht helfen.

Stefan Mauer, dpa