Flugzeugenteisung: Winter am Flughafen – das Eis muss weg!
In der kalten Jahreszeit müssen Flugzeuge und Betriebsflächen von Gefrorenem befreit werden. Eine komplexe Aufgabe, die den Mitarbeitern der Flughäfen viel abverlangt.
Nur Weniges passt so schlecht zueinander wie Fliegen und Winter. Von einem amerikanischen Airline-Manager gibt es den genervten Ausspruch: „Was unsere Branche im Sommer verdient, das verliert sie im Winter.“ Es ist nicht die schlechtere Auslastung der Flugzeuge, die für die roten Zahlen in der weißen Jahreszeit verantwortlich ist, sondern Schnee und Eis. Eine winterliche Kaltfront mit Temperatursturz und Schneegestöber kann alles zum Stillstand bringen. In Europa sind die Verhältnisse zwar nicht ganz so dramatisch wie in den USA, wo warme und feuchte Luft aus dem Golf von Mexiko und arktische Kaltluft, die über die zugefrorene Hudson Bay kommt, ungebremst aufeinanderprallen. Aber auch bei uns vergeht kein Winter ohne ein paar Tage wetterbedingtes Chaos auf den Airports.
Natürlich können Flugzeuge heutzutage bei praktisch jedem Wetter starten und landen. Im Prinzip. Allerdings müssen Start- und Landebahnen und vor allem das Flugzeug selbst frei von Eis und Schnee sein. Sonst wird’s gefährlich. Dazu muss es gar keine Schneekatastrophe geben: Schon eine dünne Raureifschicht auf den Flügeln oder dem Leitwerk verändert die aerodynamischen Eigenschaften eines Flugzeugs beträchtlich und unvorhersehbar. Alles muss restlos entfernt werden – und deshalb müssen Passagiere auch an einem wunderschön klaren, aber eisigen Wintermorgen oft warten, bis die über Nacht im Freien abgestellte Maschine enteist ist. Bei feuchtem Schnee sind zudem schnell mehrere Tonnen Gewicht erreicht.
Der Winter naht: Vorbereitung der Enteisungsflotte
Ist das Flugzeug einmal in der Luft, wird es von der bordeigenen Enteisungsanlage geschützt, die bei Jets von heißer Zapfluft aus den Triebwerken gespeist wird und unter anderem die Vorderkante der Flügel heizt. Doch am Boden ist externe Hilfe nötig. Dabei gilt die eiserne Regel: Kein Flugzeug, dessen aerodynamische Flächen kontaminiert sind, darf zum Start rollen. Die Enteisung erfolgt in zwei Schritten. Zunächst werden Rumpf, Tragflächen und Leitwerk mit Hilfe von Spezialfahrzeugen gereinigt, die ein 60 Grad heißes Gemisch aus Glykol und Wasser aufsprühen. Auf dieses sogenannte Typ-I-Enteisungsmittel folgt in einem zweiten Durchgang Typ II: Das Gemisch ist durch Zusatz eines Verdickungsmittels zähflüssig und haftet an den Oberflächen. So verhindert es erneuten Eisansatz.
Beim Start fließt Typ-II-Enteisungsmittel erst ab etwa 160 km/h Geschwindigkeit ab. Am Boden hält der Schutz durch Typ-II-Flüssigkeit jedoch nur begrenzte Zeit – deshalb ist gute Organisation am Flughafen wichtig: Wenn es stark schneit und die Wartezeit bis zum Start lang ist, muss das Flugzeug eventuell nochmals enteist werden. Die Enteisungsmittel haben unterschiedliche Farben: Typ I ist orangefarben, Typ II dagegen gelb. Durch die Signalfarben kann der Enteiser erkennen, wie gleichmäßig das Mittel aufgebracht ist.
Die Enteisung von Flugzeugen mit Infrarotstrahlern, wie sie vor zehn Jahren probeweise am New Yorker John F. Kennedy Airport und in Oslo probiert wurde, hat sich nicht durchsetzen können. Aus Sicht des Umweltschutzes wäre es vorteilhaft gewesen, denn Glykol ist zwar biologisch abbaubar, entzieht Gewässern dabei aber viel Sauerstoff. Für die Enteisung einer A320 oder 737 benötigt man rund 700 Liter Enteisungsflüssigkeit, für eine A380 beinahe 4000. Die umweltgerechte Abwasserbehandlung ist eine echte Herausforderung.
Flugzeugenteisung startet bereits bei Plusgraden
Unter Umständen kommen die Enteisungsfahrzeuge sogar zum Einsatz, wenn noch leichte Plusgrade herrschen und weit und breit keine Schneeflocke zu sehen ist. Der Grund dafür befindet sich in den Flügeltanks: Während des Reiseflugs in großer Höhe bei bis zu minus 55 Grad Celsius Außentemperatur kühlt das Kerosin darin stark ab, sodass sich am Boden bei feuchter Luft oder leichtem Regen Eis auf den Flügeln bilden kann.
Das muss nicht immer als weiße Schicht gut erkennbar sein: Wie tückisch Eis sein kann, mussten die 129 Menschen an Bord von SK 751 am 27. Dezember 1991 erleben. Die MD-81 der SAS war am Abend zuvor aus Zürich gekommen und hatte in Stockholm übernachtet. Nachts und am Morgen herrschten Temperaturen um den Gefrierpunkt. Das Flugzeug wurde mit 850 Litern Enteisungsflüssigkeit vom Typ I behandelt und rollte zum Start in Richtung Kopenhagen. 25 Sekunden nach dem Abheben war ein Schlag zu spüren, gefolgt von starken Vibrationen. 51 Sekunden später blieb der linke Motor stehen, weitere zwei Sekunden später der rechte.
Klareis führte zum Flugunfall der MD-81 der SAS in Stockholm 1991
Das Flugzeug war zu diesem Zeitpunkt gerade mal 1000 Meter über Grund und der Flughafen definitiv außer Reichweite. Assistiert von einem Flugkapitän, der zufällig am Bord war, schaffte es die Crew, den antriebslosen Jet 15 Kilometer vom Flughafen entfernt auf einem Feld zu landen. In letzter Sekunde streifte die MD-81 ein paar Bäume, der größte Teil des rechten Flügels riss ab. Beim Aufsetzen zerbrach der Jet in drei Teile, aber alle Insassen überlebten. Die Unfallursache war durchsichtiges Klareis. Es hatte sich durch den vom Flug des Vorabends unterkühlten Treibstoff auf dem Flügel gebildet und war beim Enteisen nicht vollständig entfernt worden.
Als sich die Tragflächen beim Abheben durchbogen, hatte es sich gelöst, war von den Pratt & Whitney-JT8D-Triebwerken angesaugt worden und hatte den Fan und alle drei Kompressorstufen schwer beschädigt. Ein Wintereinbruch mit Minustemperaturen und starken Schneefällen bedeuten für einen Flughafen immer den Kampf gegen das drohende Chaos. Das Enteisen einer A320 in zwei Schritten nimmt gut zwanzig Minuten in Anspruch. Bei einer A380 dauert die Prozedur eine dreiviertel Stunde. Das ist zusätzliche Bodenzeit, die die Flugplanung schnell aus den Fugen geraten lässt. Aber Sicherheit geht nun einmal vor Pünktlichkeit.
Rollwege, Start- und Landebahnen von Flughäfen müssten im Winter geräumt werden
Nicht nur die Flugzeugenteisung stellt die Flughäfen im Winter immer mal wieder vor große Herausforderungen: Auch der Flughafen selbst mit dem Vorfeld, den Rollwegen und der Start- und Landebahn muss geräumt werden. Das ist schon angesichts der riesigen Fläche kleine Kleinigkeit. In Frankfurt zum Beispiel geht es um satte neun Millionen Quadratmeter. Die Strategie, mit dieser jährlich wiederkehrenden Aufgabe umzugehen, ist von Airport zu Airport verschieden. Frankfurt stellt jedes Jahr für die Wintersaison Mitarbeiter ein, um die eigene Mannschaft für den Winterdienst zu verstärken. Rund 1400 Beschäftigte sind auf Deutschlands größtem Flughafen dafür im Einsatz, 400 davon allein für die Enteisung der Flugzeuge.
In München hat man zum Schneeräumen Landwirte aus der Nachbarschaft des Airports unter Vertrag – samt deren Fahrzeugen. In Stuttgart dagegen setzt man ausschließlich auf die eigenen Kräfte. 180 Mitarbeiter stellen sich dafür freiwillig zur Verfügung. „Das wird mit sehr, sehr großem Engagement der Mitarbeiter getragen“, freut sich Susanne Hermann. Als Leiterin der Verkehrslenkung ist sie für die Organisation des Winterdiensts verantwortlich. Wenn nötig sitzt sie auch selbst auf dem Lkw, um der weißen Pracht Herr zu werden. Einzig, um den Schnee vom Vorfeld abzutransportieren, nimmt man externe Hilfe in Anspruch. Wenn es schneit, bleibt die Büroarbeit liegen, nicht nur für sie selbst, sondern auch für die anderen Freiwilligen.
Enteisung der Flugzeuge bedeutet Bereitschaftsdienst der Mitarbeiter im Winter
Alle drei Wochen haben die Mitarbeiter Bereitschaft und müssen damit rechnen, dass sie nachts aus dem Bett geklingelt werden, damit morgens zum Betriebsbeginn freie Bahn ist. Vorneweg fahren die Schneepflüge in V-Formation, dahinter die Sprüh- und Streufahrzeuge, ganz zum Schluss die Schneeschleuder, die die Schneemassen vom Rand der Start- und Landebahn 40 Meter weit dorthin befördert, wo sie kein Flugzeug mehr gefährden können. Eingesprüht wird die Bahn mit einem Taumittel auf Alkoholbasis. Ein Granulat aus biologisch besonders gut abbaubarem Natriumformiat sorgt dafür, dass der Schnee nicht sofort wieder gefriert. 20 bis 30 Minuten dauert es, die Startbahn zu räumen, dann kommen die Schnellabrollwege dran und nach Vorgaben der Flugsicherung die je nach Wetterlage wichtigsten Taxiways.
Erst wenn der Airport Duty Manager die Flächen abgefahren hat und bestätigt, dass die Bremswirkung für einen sicheren Flugbetrieb ausreicht, wird der Flughafen geöffnet. „Bei leichten Schneefall ist die Bahn für ein bis zwei Stunden frei. Wenn es stärker schneit, kann es sein, dass wir nach einer halben Stunde wieder raus müssen“, sagt Susanne Hermannn. Aber wie dick es kommt, das weiß man nie. Es kann sein, dass auf dem Wetterradar ein dickes Schneefallgebiet zu sehen ist, dass sich auf den Flughafen zubewegt, und dann doch im letzten Moment rechts oder links vorbeizieht. Gibt es überfrierende Nässe oder gefrierenden Regen, dann ist das auf dem Flughafen Stuttgart ein Fall für die Feuerwehr. Die fährt den Flughafen mit großen Fahrzeugen ab, die 40 Meter Breite auf einmal mit Enteisungsflüssigkeit besprühen. Die Wintersaison beginnt auf dem Airport übrigens am 1. November. Ab 15. April können sich die Freiwilligen des Winterdiensts dann wieder auf eine ungestörte Nachtruhe freuen.
Training für Flugzeugenteiser im Simulator
Flugzeugenteisung gehört aus zwei Gründen zu den besonders verantwortungsvollen Arbeiten auf einem Flughafen: weil das Potenzial groß ist, die Maschine zu beschädigen, und weil an der richtigen und sorgfältigen Erfüllung dieser Aufgabe Menschenleben hängen. Es ist keine Kleinigkeit, mit mehreren „Elephanten“, wie ein großer Hersteller seine Enteisungsfahrzeuge mit ihren langen Auslegern nennt, einen Jumbo oder eine A380 auf den Start vorzubereiten. Port Ground, die für Bodenabfertigung und andere Dienstleistungen zuständige Tochtergesellschaft der Mitteldeutschen Flughäfen, schult ihre Mitarbeiter eigens in einem Simulator. Und nicht nur die eigenen: Im Hochsommer, wenn man auf dem Vorfeld ins Schwitzen gerät, werden am Flughafen Leipzig Flugzeugenteiser ausgebildet.
Mit dem Strahl aus heißem Wasser und Glykol einfach auf das Flugzeug zuhalten, genügt nicht, um die Voraussetzungen für einen sicheren Start zu schaffen. Systematisches Vorgehen ist gefragt, ebenso die Kenntnis kritischer Punkte. Ein Beispiel: Bei auf dem Flugzeug verbleibenden Typ-II-Enteisungsmittel trennen sich nach einiger Zeit die Bestandteile. Es können auf dem Flugzeug Verdickerrückstände zurückbleiben, die womöglich Wasser binden und dann gefrieren. Damit das nicht an den falschen Stellen passiert, vermeiden die Enteiser es, Spalten der Steuerelemente direkt zu besprühen. Denn diese könnten sonst später durch Eis blockiert werden. Fünf bis sechs Stunden im Simulator gehören zur Grundausbildung für Enteisungsneulinge, dazu kommt die entsprechende Theorie. Nach dem Traning im Simulator geht es dann zum richtigen „Elephanten“ aufs Vorfeld des Flughafens.
Text: Heinrich Großbongardt; AERO INTERNATIONAL 1/2019