Belgrad passt in kein Genre. Zwischen Balkan-Nostalgie und Aufbruch drehen Kreative in der serbischen Hauptstadt ihren ganz eigenen Film. Popcorn und Soundtrack sind für die Zuschauer inklusive. Belgrad (dpa/tmn) – Was einem am Flughafen von Belgrad zuerst auffällt, ist der Geruch. Stickig, muffig. Wo kommt das her? Aus den Toilettenkabinen. Da stehen Frauen auf Pfennigabsätzen […]

Belgrad passt in kein Genre. Zwischen Balkan-Nostalgie und Aufbruch drehen Kreative in der serbischen Hauptstadt ihren ganz eigenen Film. Popcorn und Soundtrack sind für die Zuschauer inklusive.

Belgrad (dpa/tmn) – Was einem am Flughafen von Belgrad zuerst auffällt, ist der Geruch. Stickig, muffig. Wo kommt das her? Aus den Toilettenkabinen. Da stehen Frauen auf Pfennigabsätzen und mit viel Lippenstift und qualmen. An anderen Flughäfen bekommen Reisende grüne Smoothies und vegane Snacks. In Serbiens Hauptstadt schlägt einem erst einmal Zigarettenrauch entgegen. Ist das die Metropole, die im Internet häufig als Geheimtipp gefeiert wird?

Belgrad soll jetzt cool sein. Wild und billig wie Berlin nach der Wende, Party von Montag bis Sonntag, ein Insider-Tipp auf dem Balkan. Also schnell hinfahren, bevor es zu spät ist und sich ein eigenes Bild machen – oder am besten gleich einen ganzen Film.

Wer noch nie im früheren Jugoslawien war, kann die Reise nach Belgrad mit einem Kinobesuch vergleichen. Dabei geht es weniger um die Frage, was auf der Leinwand läuft, sondern was man sehen will. Von Dolce Vita im Balkan-Style bis zum serbischen Historiendrama ist vieles möglich. Popcorn inklusive. Dazu später mehr.

Erst einmal ist da Tristesse. Vor dem Flughafen wartet das Taxi. Ein klappriger Familienwagen mit verrauchtem Innenraum und Sitzen, die vor dem Krieg wohl besser aussahen. Ja, der Kosovo-Krieg. Lang ist er nicht her, 1999 fielen die letzten Bomben. Der Mann am Steuer hat sie miterlebt, wie viele andere der rund 1,3 Millionen Menschen, die in Belgrad leben. Selbst wenn alle schweigen würden, erzählen die Häuser die Geschichte.

Die Fahrt ins Zentrum fühlt sich an wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Sie führt vorbei an gigantischen Betonkonstruktionen und schier endlosen Plattenbauten. Kalt wirken sie, majestätisch – Glanzstücke des Brutalismus, einem Architekturstil aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dazu zählt der Genex-Turm, das «Westtor von Belgrad». Es beschleicht einen das Gefühl, dass die Zeiten hier früher hart gewesen sein müssen.

Häufig wurde Belgrad zerstört und wieder aufgebaut. Übrig blieb ein Mix aus allem, was in den vergangenen Jahrhunderten gebaut wurde: Prachtwerke im neoklassizistischen Stil, Jugendstilvillen, Überreste des osmanischen Reichs. Der Dom des Heiligen Sava, eine der größten orthodoxen Kirchen der Welt, wurde im byzantinischen Stil errichtet. Jede Straße ist wie ein Überraschungsei.

Wägt man sich gerade noch wie in einem Pariser Szeneviertel, reißt einen die sozialistische Eintönigkeit an der nächsten Ecke abrupt aus den Träumen. Verrußte Wände, besprüht mit bunter Farbe.

Auf einem Haus prangt die jugoslawische Fahne, als ob die Kommunisten nie weg gewesen wären. «Früher war alles besser», heißt es heute selbst unter jungen Menschen, die von der sozialen Sicherheit und dem Lebensstandard schwärmen, den ihre Eltern zu damaligen Zeiten vermeintlich genossen haben.

Belgrad ähnelt einer gigantischen Filmkulisse. Dazu passt, dass es an jeder Ecke Popcorn gibt. Alle paar Hundert Meter stehen kleine Buden, die vom Jahrmarkt stammen könnten – wieder ein Fotomotiv. Auch die ausrangierten Klimaanlagen an den Hauswänden, die kreuz und quer hängenden Stromkabel und die bröckelnden Fassaden sind auf seltsame Art pittoresk. Als ob die Handwerker irgendwann keine Lust mehr hatten. Oder kein Geld. Das ist wahrscheinlicher. Wenn Berlin arm aber sexy ist, stellt sich die Frage, was Belgrad ist.

Spätestens an dieser Stelle ist es Zeit, über Ada zu reden, die künstliche Halbinsel, deren vollständige Bezeichnung Ada Ciganlija lautet. Einheimische empfehlen diesen Ort auf die Frage, wo der Eindruck vom Belgrader Leben möglichst authentisch sei. Dort soll das neue Belgrad warten. Cool und hip, wie es heißt.

Hier kannst Du am Strand sitzen und ein Glas Wein trinken, so lautete ein Tipp. Beach-Feeling in Serbien, das klingt für Urlauber so, als ob man gleich hin müsste. Für die Belgrader hingegen dürfte der zweite Teil des Satzes mindestens genauso ausschlaggebend sein: Alkohol ist hier mindestens so im Trend wie Rauchen. Ein großes Bier gibt es für ein bis zwei Euro.

Etwa zehn Minuten sind es mit dem Taxi vom Stadtzentrum zur Halbinsel. Der See ist beidseitig umsäumt von Ufern, die mit Kies aufgeschüttet sind. Ein Rundweg führt an zahlreichen Buden und Restaurants vorbei. Der Hochbetrieb geht hier ab Anfang Mai los. Viele Belgrader sind auf Inline-Skates unterwegs oder stehen beim Fahrradverleih Schlange. Selbst Skifahren geht – im Simulator. Wenn es einen Dresscode gibt, dann ist es dieser: Jogginghose und Turnschuhe. Das Outfit dient aber offenkundig nicht sportlichen Zwecken.

Schon am Vormittag haben die ersten Besucher einen Drink in der Hand und sitzen in Cafés, die «Little Italy» oder «Del Mar» heißen. Eine Bar wirbt mit dem Slogan «Ibiza Beach Bar is my happy Place». Gegen 13.00 Uhr wird die Musik aufgedreht. Ballermann-Techno dröhnt vom anderen Ufer rüber. Wer die Sonne genießen will, setzt sich in die ausrangierten Polstermöbel oder auf eine der wild zusammengezimmerten Sitzgarnituren am Strand und streckt die Beine von sich.

«Im Sommer wird es richtig heiß, locker 35 Grad», sagt Radovan Pesic. Gemeinsam mit seinem Bruder betreibt er das «Tropical Heat», benannt nach der US-Krimiserie aus den Neunzigern. «Damals in Serbien der Hit schlechthin», sagt Pesic und schmeißt die Popcorn-Maschine an. Das Gefühl, tatsächlich in einem Neunziger-Film stecken geblieben zu sein, wird wieder stärker. Da muss etwas dran sein.

«Wenn ich ehrlich bin, viel hat sich nicht verändert», sagt Pesic. Seit mehr als 20 Jahren ist er schon auf Ada, zwischendrin war er sechs Jahre weg. Russland, Südafrika, Zypern. Irgendwann habe es ihn wieder zurückgezogen, sagt er. So wie viele andere auch, die nach dem Krieg zunächst das Weite suchten. Doch so einen Platz wie hier habe er auf der Welt nirgends gefunden: «Belgrad hat eine seltsame Anziehungskraft.»

Das empfindet nicht nur Pesic so. «Immer mehr Menschen wollen die Stadt zurück auf die Weltkarte bringen», sagt Luka Lazukic und zieht an seiner Zigarette. Seine Stimme ist rauchig, die Haare sind nach hinten gegelt. Wer ihn bei Google sucht, landet in der serbischen Klatschpresse. Seine Müdigkeit versteckt der IT-Unternehmer hinter einer XXL-Sonnenbrille. Wenige Stunden zuvor kam er aus Cannes eingeflogen.

«In die Szene kommst du nicht einfach so rein. Aber wenn du einmal drin bist, entdeckst du ein anderes Belgrad unter der Oberfläche», sagt Lazukic im Szene-Restaurant «5A Soba». Viele hätten die Stadt nach dem Krieg verlassen, um ihr Geld in New York und anderen Metropolen zu verdienen. «Jetzt bringen sie die Trends zurück.» Unter die einheimischen Unternehmer mischen sich Geschäftstüchtige aus den umliegenden Staaten wie Bosnien und Montenegro, die Belgrad zum kreativen Schmelztiegel des Balkans machen.

Aufgetischt wird im «5A Soba» moderne Fusion-Küche, das Interieur ist so stylisch wie das Essen selbst. Zu den Pralinen gibt es echtes Blattgold. Das Lokal gehört Lazukic‘ Freund Amer Niko Sananovic, der in seiner Heimat Bosnien zu den Gastronomie-Größen zählt. In seinem Fine-Dining-Lokal «The Four Rooms of Mrs. Safija» in Sarajevo habe er schon Hollywood-Stars wie Penelope Cruz, Robert de Niro, Morgan Freeman oder Roberto Cavalli als Gäste empfangen, sagt er.

Wer Geld hat, ist in Belgrad König. Doch jene, die keines haben, kommen auch. Internationaler Flughafen, bezahlbare Mieten und Inspiration an jeder Hauswand: Die Balkan-Metropole zieht gerade wegen ihrer Kontraste Kreative aus aller Welt an. Der älteste Stadtteil Dorcol sei vergleichbar mit Williamsburg in New York, sagt Lazukic. «Früher war es die gefährlichsten Ecke, jetzt ist es cool.»

Das finden sogar Berliner. Am Dorcol-Platz haben die Betreiber des legendären Kreativdorfs Holzmarkt ihre Liebe zu Belgrad verewigt. Einmal im Monat seien die Besitzer gekommen, sagt ein Mitarbeiter. Aus guten Besuchern wurden Freunde, bis sie irgendwann das unverwechselbare Konzept aus bunten Holzpaletten in die serbische Hauptstadt holten. Am Wochenende gibt es hier nun Stand-Up-Comedy, «Organic Food Markets» und montags freies Yoga.

Wer einmal weiß, dass es solche Plätze in Belgrad gibt, sieht sie plötzlich überall: Concept-Stores, Vintage-Läden, Co-Working-Spaces. Im Beogradski Market sitzen junge Digitalarbeiter mit aufgeklappten Laptops. In der 1000 Quadratmeter großen Industriehalle finden sich Designer-Läden, Floristen, eine Craft-Bier-Destillerie und vegane Imbisse. Von Tristesse keine Spur. Läuft hier ein anderer Film?

In einem Land, in dem auf der politischen Bühne oft ein absurdes Theater aufgeführt wird, fangen viele Zuschauer an, ihre eigenen Stücke zu schreiben. «Die Politik benimmt sich so, als ob die Menschen dumm wären», sagt die Sängerin Maja Louis.

Ihr Vater «Louis» war bis zu seinem Tod ein gefeierter Musiker auf dem Balkan. Inzwischen ist auch Maja Louis ein bekannter Name in der Szene. Was die Künstlerwelt betrifft, sei die serbische Hauptstadt vergleichbar mit Berlin, sagt sie.

Ist dies nun also der Ort, den Reisende im Internet als Geheimtipp Europas feiern? In gewisser Weise ja. Doch Belgrad muss niemand feiern. Die Stadt feiert sich selbst. «24 Stunden, von Montag bis Sonntag», sagt Louis. Vielleicht ist Belgrad doch kein Melodram, sondern ein Liebesfilm. Aber eben auf den zweiten Blick.

Info-Kasten: Belgrad

Anreise und Formalitäten: Nonstopflüge nach Belgrad bieten etwa Air Serbia und Lufthansa an, beispielsweise von Berlin, Frankfurt/Main oder München aus. Über Wien, Budapest und Zagreb gibt es alternativ auch Bahn- und Nachtzugverbindungen. Die Einreise ist mit Reisepass oder Personalausweis möglich. Ein Visum ist nicht nötig.

Informationen: National Tourism Organisation of Serbia, Cika Ljubina Straße 8, Belgrad 11000 (Tel.: +381/11/6557 100, E-Mail: info@serbia.travel, www.serbia.travel).