Die mit den Löwen leben: Massai schützen den König der Tiere Von Thomas Burmeister, dpa
Löwen, die brüllen, beißen nicht. Erst wenn sie schweigen, droht Gefahr. Massai-Kinder in Kenia wissen das. Sie lernen, mit Raubtieren in der Nachbarschaft zu leben – zum Nutzen von Mensch und Tier. Nairobi (dpa) – Wie macht das Schaf, wie macht die Kuh? Und wie macht der Löwe? Acht Flugstunden von Frankfurt am Main entfernt, […]
Löwen, die brüllen, beißen nicht. Erst wenn sie schweigen, droht Gefahr. Massai-Kinder in Kenia wissen das. Sie lernen, mit Raubtieren in der Nachbarschaft zu leben – zum Nutzen von Mensch und Tier.
Nairobi (dpa) – Wie macht das Schaf, wie macht die Kuh? Und wie macht der Löwe? Acht Flugstunden von Frankfurt am Main entfernt, in den Bomas (Gehöften) der Massai südlich des Nairobi-Nationalparks, haben Kinder darauf ähnliche Antworten wie in Deutschland. Nur dass die kleinen Massai das echte Brüllen der Löwen kennen. Und dass nicht wenige von ihnen auch wissen, wie es sich anhört, wenn die Raubkatzen Schafe oder Kühe zu Tode beißen.
«Mein Sohn Tajeu wacht oft auf von dem Brüllen», erzählt Nickson Parmisa. «Papa, verscheuch sie, sagt er. Tajeu ist sechs Jahre. Aber er unterscheidet schon einzelne Löwen am Gebrüll. Und er weiß, was sie für Unheil anrichten können.»
JUNGER CHIEF
Mit 35 Jahren ist Nickson Parmisa einer der jüngsten Chiefs – gewählte Gemeindevorsteher – des Massai-Volkes in Kenia. Gut 6000 Menschen leben in den Bomas seiner Kleinbauern- und Viehzüchter-Gemeinde auf den sanften Hügeln südlich von Nairobi.
Im Westen liegen die Ngong-Berge – der Sage nach die vom Urwald überwucherte rechte Faust eines gefallenen Riesen. Jene Berge, in deren Nähe einst Karen Blixen – in Hollywoods «Jenseits von Afrika» gespielt von Meryl Streep – mit einer Kaffeefarm gescheitert war.
Südlich erstrecken sich die Savannen der riesigen Athi-Ebene. Gleich um die Ecke im Norden, am anderen Ufer des Athi-Flusses, beginnt der Nairobi-Nationalpark (NNP). Und damit das große Problem der Massai-Viehhalter in Nickson Parmisas Gemeinde.
SCHUTZGEBIET NEBEN WOLKENKRATZERN
Nairobi war eine Kleinstadt, als der NNP 1946 von der damaligen britischen Kolonialverwaltung eröffnet wurde. In Kenia lebten weniger als 8 Millionen Menschen. Heute sind es mehr als 40 Millionen. Allein Nairobi hat mehr als 3,5 Millionen Einwohner und ist längst dicht an den Nationalpark herangewachsen.
Mit seinen 117 Quadratkilometern ist er der kleinste des Landes. Zugleich aber auch der einzige Afrikas, in dem Zebras, Gnus, Antilopen, Giraffen, Büffel, Nashörner und – mit etwas Glück – Löwen vor einer Wolkenkratzerkulisse beobachtet werden können.
Auf drei Seiten werden die Wildtiere von Elektrozäunen gestoppt. Doch nach Süden zur Athi-Ebene – und damit theoretisch bis hin zur Küste des Indischen Ozeans – ist der Weg offen. Er führt direkt an den Bomas der Massai vorbei.
ANSCHLEICHEN UND ZUSCHLAGEN
«Löwen, die brüllen, jagen nicht», sagt Chief Nickson. «Die hauen nur auf den Putz. Meist am Abend. Hier bin ich der König, verkünden sie.» Gefährlich werde es in der Nacht oder früh am Morgen. «Wenn wir sie nicht mehr hören, könnten sie sich gerade anschleichen.» Anschleichen, um plötzlich zuzuschlagen.
NÄCHTLICHER ÜBERFALL
Juli 2015. Eine stille, klare Nacht. Kein Löwe ist zu hören, kein Flugzeug ist mehr im Anflug auf den Jomo Kenyatta International Airport am Ostrand des Parks. Plötzlich ein Krachen, brechendes Holz, Fauchen, Grollen, verzweifeltes Blöken. Minuten später wieder Stille.
TÖTEN, WAS SICH BEWEGT
Die Morgensonne beleuchtet auf dem Hof von Chief Nicksons Nachbarn Rupande Romo ein Drama: Fast 50 Kadaver von Schafen. Mit durchbissenen Kehlen, teils mit zerknackten Schädeln. «Wenn Löwen in ein Gehege eindringen, ist das anders, als wenn sie in freier Natur jagen», sagt der Chief. «Sie beißen tot, was sich bewegt und nicht flieht. Instinktiv, damit nichts da ist, was sich noch wehren und sie verletzen könnte. Erst wenn alles tot ist, schleppen sie ein Beutetier weg.»
RUF NACH RACHE
Was nun droht, wissen alle, die den Konflikt zwischen den Löwen im Park und den Massai in dieser Gegend kennen. Schließlich haben die Raubkatzen alle Tiere einer Massai-Familie vernichtet, deren wirtschaftliche Existenz, innerhalb von Minuten.
Und das nicht zum ersten Mal. «2012 war das schlimmste Jahr, da haben Löwen hier fast 1000 Schafe, Ziegen oder Kühe getötet», sagt der Chief. «Nach dem Massaker bei Rupande riefen viele nach Rache. Sie wollten Löwen töten.» Notfalls mit Gift. Wie vor einige Jahren, als erboste Massai den Löwenbestand im NNP auf weniger als ein Dutzend dezimierten.
ZWEI LÖWENSCHÜTZER
Wenn heute wieder mehr als 40 Löwen in Sichtweite von Nairobi beheimatet sind, liegt das auch am Einsatz zweier Kenianer, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten: Massai-Chief Nickson und der britisch-stämmige Safari-Unternehmer Jake Grieves-Cook. «Es drohten erneut große Feindseligkeiten gegenüber den Löwen», berichtet der Besitzer des Unternehmens Gamewatchers Safaris. «Wir beide wollten das verhindern.»
KEINE LÖWEN – WENIGER TOURISTEN
Jake betreibt unter anderem das Nairobi Tented Camp, das einzige Zeltlager innerhalb des Parks. Ihm und Nickson war klar: Das Verschwinden der Nairobi-Löwen würde die Attraktivität des einzigen offenen Wildtierareals unmittelbar neben einer afrikanischen Metropole massiv schmälern. Ebenso wie der Park selbst, der vom staatlichen Kenya Wildlife Service verwaltet wird, hängen Lodge-Betreiber und Safari-Veranstalter vom Tourismus ab.
JOBS FÜR MASSAI
Aber auch viele Massai leben heute quasi von den Löwen. Sie werden von Gamewatchers und ähnlichen Unternehmen bevorzugt eingestellt und ausgebildet. «Wir haben den Nutzen wilder Tiere erkannt», sagt Tony Saruni, selbst Massai, Vater von zwei Kindern und Tourguide im NPP. Er ist sichtlich stolz, «seine» Löwen an den Schnurrhaaren erkennen zu können. «Dass Massai mit dem Speer Löwen töten, um sich als Männer zu erweisen, ist nur noch eine romantische Geschichte aus alten Zeiten.»
RASCHE HILFE
Ganz anderes sieht das freilich aus, wenn Löwen Viehbestände der Massai dezimieren. Grieves-Cook greift sofort zum Handy, als er vom «Massaker» bei Rupande Romo hört. Er alarmiert Kollegen, Stammkunden und Mitglieder der Naturschutz-Gruppe «Friends of Nairobi National Park». Rasch kommen 1900 Dollar zusammen – der Gegenwert von 47 Schafen -, so dass der Bauer für den Verlust entschädigt werden kann.
LEICHTE BEUTE
«Uns war zugleich klar, dass wir dauerhafte Lösungen brauchen», sagt Craig Chapman. Der australische Afrika-Liebhaber betreibt die Ololo Safari Lodge am Rande des Parks. «Diese Löwen haben erfahren, was Schafe oder Kühe von Antilopen oder Büffeln unterscheidet: Haustiere wissen nicht mehr, sich zu wehren. Sie sind eine leichte Beute.»
LÖSUNG LÖWENLAMPE
Es sei denn, der Mensch schützt sie und gewöhnt den Löwen, das Schafereißen wieder ab. Durch verstärkte Zäune und Gitter, Stacheldraht, Alarmanlagen, bewaffnete Wächter. Oder gar mit High-Tech-Netzen vor den Gehegen, von deren Maschen Löwenkrallen abrutschen. «All das ist zu teuer», sagt Nickson Parmisa. «Deshalb sind wir so froh, dass ein Junge aus unserer Gemeinde die Idee mit den «Lion Lights» hatte.»
HELLES LEUCHTEN
Mit Strom aus Solarzellen – ans Netz ist die Gemeinde nicht angeschlossen – sorgen die «Löwenlampen» nachts an den Gehegen mit Ziegen, Schafen und Kühen für ein unregelmäßiges helles Leuchten. «Löwen schrecken davor zurück», berichtet der Chief. «Bei keinem Gehöft mit «Lion Lights» gab es einen Überfall.» Mit einer Ausnahme. Drei Schafe wurden trotzdem aus einem Gehege geholt. «Aber der Bauer hatte die Solarbatterie zum Fernsehschauen benutzt – da blieb kein Strom mehr für die Lampen. Das macht er nie wieder.»
HOFFEN AUF SPENDER
Mit Hilfe von Spenden sollen möglichst viele Löwenlampen installiert werden. Die ersten waren noch Marke Eigenbau. «Wir hoffen auf preisgünstige Angebote von Firmen», sagt Chapman. Er hat ein solargetriebenes Modell aus Australien mitgebracht. «Es hilft dort, Dingos (Wildhunde) von Farmen fernzuhalten.»
Initiativen zur «Aussöhnung» von Menschen und Löwen gibt es auch in den Naturschutzgebieten Masai Mara und Amboseli unweit des Kilimandscharo. Dort werden jungen Massai Patenschaften über neugeborene Löwen übertragen, erzählt Tourguide Tony Saruni. «Die bekommen dann den Namen ihrer persönlichen Beschützer, das macht die jungen Männer stolz.»
BEDROHTER KÖNIG
Doch der größere Teil der Wildtiere Afrikas lebt außerhalb von Schutzgebieten. Parallel zum Wachstum der Bevölkerung schrumpft dort ihr Lebensraum. Deshalb ist der König der Tiere in Teilen des Kontinents vom Aussterben bedroht. In Zentral- und Westafrika werde es in 20 Jahren keine Löwen mehr geben, warnt eine Forschergruppe der Universität Oxford. Allein in Botsuana, Namibia, Südafrika und Simbabwe nehme die Zahl der Raubkatzen noch zu – aber nur noch in Schutzgebieten.
TROPHÄENJAGD EMPÖRT
Dass Raubkatzen von Trophäenjägern erlegt werden, löst zwar Empörung aus. Wie im vergangenen Sommer die Tötung des «prominenten» Löwen Cecil in Simbabwe durch einen amerikanischen Zahnarzt. Doch die organisierte und – im besten Fall – streng kontrollierte Jagd auf Löwen bedroht nicht deren Überleben als Art.
«Bei uns in Kenia ist die kommerzielle Jagd auf Wildtiere seit 1977 verboten», sagt Grieves-Cook. Das Land ist für die Finanzierung des Naturschutzes fast vollständig auf Safari-Touristen angewiesen. «Die stärkste Bedrohung unserer Löwen geht vom Schrumpfen ihrer natürlichen Lebensräume sowie von Mensch-Wildtier-Konflikten aus.»
KOEXISTENZ VON MENSCH UND RAUBTIER
Die beste Chance, dass auch künftige Generationen Löwen in freier Wildbahn erleben können, sieht Jake in den Nationalparks: «Ohne geschützte Regionen, in denen sie Beutetiere vorfinden, werden Löwen nicht überleben.» Dazu gehöre, dass auch im Umfeld der Parks Lösungen für die Koexistenz von Menschen und Raubtieren gefunden werden – so wie mit der Massai-Gemeinde im Süden von Nairobi, rund acht Flugstunden entfernt vom nächsten deutschen Zoo.