Möglicherweise ist Vereisung im Flug der Grund für den Flugzeugabsturz einer ATR 72 in Brasilien. Wie gefährlich ist eine Vereisung? Welche Enteisungsmethoden gibt es und wo kommen die Infos übers Wetter her?

In Brasilien sind am Freitag, 9. August, 62 Menschen bei einem Flugzeugabsturz nahe São Paulo ums Leben gekommen. Die ATR 72-500 der brasilianischen Regionalfluggesellschaft Voepass kam scheinbar ins Trudeln und „fiel dann förmlich vom Himmel“ in den Garten zwischen mehreren Häusern einer Wohnsiedlung in Vinhedo. Überlebende gab es keine, die Maschine zerschellte in tausende Teile und brannte völlig aus. Die Blackbox, die aus einem Cockpit-Stimmenrekorder und einem Flugdatenschreiber besteht, wurde inzwischen gefunden und wird ausgewertet. Die Unfalluntersuchung läuft. Innerhalb der nächsten 30 Tage soll es einen ersten, vorläufigen Unfallbericht geben.

Eine mögliche Ursache könnte Vereisung am Flugzeug sein, zumindest ist dies eine erste Einschätzung der Experten. Zum Zeitpunkt des Absturzes herrschte instabiles Wetter mit der Gefahr von Gewittern, Turbulenzen und auch Vereisung. Auf der Flughöhe FL170 sollen die Temperaturen zwischen minus elf und minus neun Grad gewesen sein. AERO INTERNATIONAL erklärt, was unter einer Vereisung am Flugzeug zu verstehen ist, in welchen Höhen und Regionen das vorkommt und wie gefährlich das für Mensch und Maschine sein kann. Denn Fakt ist: Eisbildung reduziert den Auftrieb eines Flugzeugs und auch den Wirkungsgrad von Propellern und somit den verfügbaren Schub.

Wann bildet sich Eis im Flug?

Vereisung kann im Temperaturbereich 0 bis -40 Grad auftreten. Es werden bei der Eisbildung die Vereisung im Flug und die Vereisung am Boden unterschieden. Für Eisansatz im Flug muss Feuchtigkeit in der Luft zu sehen sein. Und das ist vor allem in Wolken der Fall. Treffen unterkühlte flüssige Wolkentröpfchen auf das kalte Flugzeug im Flug durch Wolken, findet ein erstes Anfrieren statt. Wird durch Nebel, Regen oder Niesel geflogen, besteht ebenfalls die Gefahr, dass größere Wassertropfen am Flugzeug anfrieren. 

Ist ein Flug in Instrument Meteorological Conditions (IMC) geplant, gilt der erste Blick der Höhe des Freezing Levels, also der Nullgradgrenze, wo die Luft auf null Grad abgekühlt ist. Faustregel: Pro 1000 Fuß Höhe – etwa 300 Meter – wird die Luft um zwei Grad kälter. Liegt die Nullgradgrenze unterhalb der geplanten Flughöhe oder gar am Boden, ist ein Einflug in die Wolken für ungeschützte Flugzeuge tabu.

Eisige Temperaturen am Boden: Der Airbus A319 wird enteist, bevor es in die Luft geht.
Eisige Temperaturen am Boden: Der Airbus A319 wird enteist, bevor es in die Luft geht. Foto: Wolfgang Küchler Bild: Wolfgang Küchler

Die Vereisung am Boden kommt im Winter vor. Bei der Vorflugkontrolle muss darauf geachtet werden, dass sich kein Eis am Flugzeug befindet. Hier kommen die Enteisungmaschinen am Flughafen zum Einsatz.

Wie entsteht Vereisung am Flugzeug?

Zuerst sollten wir wissen, dass Wasser bei Temperaturen unter 0 Grad in Eis übergeht. Allerdings gefrieren frei in der Luft schwebende Wassertropfen nicht sofort bei Unterschreiten des Gefrierpunktes, sondern bleiben teilweise bis zu sehr tiefen Temperaturen im flüssigen Aggregatzustand. Erst wenn sie zum Beispiel erschüttert werden, findet der Phasenübergang statt. Das ist beispielsweise beim Aufprall auf das Luftfahrzeug der Fall. Die unterkühlten Wassertropfen gehen dann in den Eiszustand über und frieren an der Flugzeugoberfläche fest – das Flugzeug vereist.

Von 0 bis -20 Grad können große und kleinere Wassertropfen vorkommen. Zwischen -20 und -40 Grad sind es nur noch kleine Tröpfchen, da die größeren Tropfen bereits zu Eis geworden sind. Unterhalb von -40 Grad gibt es keine unterkühlten Tropfen mehr, denn auch sie sind in Eis verwandelt worden. Unterkühlte Wassertropfen können also im Flug durch unterkühlte Wolken gefrieren, wenn diese als Wolkentröpfchen, als Nieseltropfen oder als Regentropfen auf der Flugzeugoberfläche auftreffen und anschließend gefrieren. Eine weitere Möglichkeit: Das Flugzeug steigt in wärme Luft, in die aber aus höheren und kalten Luftschichten unterkühlter Regen fällt.

Eine der wohl häufigsten Varianten: Das Flugzeug fliegt in einer kalten Luftschicht und ist deshalb selbst kalt, aus einer wärmen Luftschicht fällt Regen. Das passiert beispielsweise im Winter bei Warmfrontdurchgängen. Aus einer aufgleitenden Warmfront fällt Regen in die darunter liegende Kaltluft mit Temperaturen unter 0 Grad. Die Regentropfen werden unterkühlt, es entsteht gefrierender Regen und beim Auftreffen entsteht sofort Klareis, das in kürzester Zeit das Flugzeug überziehen kann. Gut zu wissen: Je länger sich das Flugzeug in diesen Bedingungen aufhält, desto dicker wird der Eisansatz.

Welche Arten von Eisansatz gibt es?

Es gibt verschieden Arten von Eisansatz – alle sind schlecht. Bei Temperaturen zwischen –2 und –10 Grad Celsius ist Raueis zu erwarten, das aus unterkühlten Nebelfeldern Wolkentröpfchen entwickelt. Die behalten beim Aufprall aufs Flugzeug ihre Form, wodurch sich Lufteinschlüsse ergeben. Dadurch sind die Ablagerungen milchigweiß und gut sichtbar. Schwerer zu erkennen ist Klareis, das vor allem bei Temperaturen zwischen 0 und –3 Grad entsteht, wenn größere unterkühlte Wassertropfen langsamer gefrieren, sodass sie auf der Oberfläche noch ein wenig verlaufen.

Supercooled Large Droplet Icing
Supercooled Large Droplet Icing Bild: NASA

Besonders berüchtigt sind die SLDs (supercooled large droplets) mit einer Größe von mehr als 50 Mikrometern, die vor allem als Produkt von Freezing Rain (FZRA) auftreten. Eis bildet sich zuerst an Objekten mit starken Krümmungsradien: Der Fühler des Außenthermometers ist ein Klassiker.

Warum ist Vereisung im Flug so gefährlich?

Vereisung kann die aerodynamische Form beeinträchtigen, den Luftwiderstand erhöhen und die Steuerbarkeit des Flugzeugs einschränken. Die große Gefahr bei Vereisung im Flug besteht darin, dass ein Flugzeug kein Auftrieb mehr erzeugen kann. Und dieser ist notwendig damit das Flugzeug fliegt. Wichtigster Faktor für die Auftriebserzeugung ist die Veränderung des vorgegebenen Tragflächenprofils, sodass weniger Auftrieb erzeugt wird und der Widerstand steigt.

Weniger relevant als viele denken ist die Masseerhöhung des Flugzeugs vor allem durch Klareispanzer. Der Propeller, der in sauberem Zustand vielleicht noch eine Chance hätte, das Flugzeug aus der Vereisungszone herauszuziehen, verliert nicht nur erheblich an Wirkungsgrad – es kann durch ungleichmäßigen Eisansatz auch zu erheblichen Unwuchten kommen, die eine Leistungsreduzierung erzwingen.

Wo gibt es Informationen zum Wetter?

In Deutschland gilt: Der Deutsche Wetterdienst ist der designierte Flugwetterdienst für den Luftraum der Bundesrepublik Deutschland ist. Das heißt, der DWD ist vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) als offizieller Dienstleister benannt. Im Auftrag des BMDV ist der DWD verantwortlich für die meteorologische Sicherung der zivilen Luftfahrt in Deutschland. Die Dienstleistungen des Flugwetterdienstes werden gemäß internationaler Standards der International Civil Aviation Organisation (ICAO), der World Meteorological Organisation (WMO) und der Europäischen Union erbracht. Verankert ist der Auftrag des Flugwetterdienstes im Luftverkehrsgesetz Paragraf 27 und im Gesetz über den Deutschen Wetterdienst.

Zu den Flugsicherungsdiensten des DWD gehören die Wetterüberwachung und -beobachtung, Flugwettervorhersagen, Flugwetterberatung sowie die Erstellung und Verbreitung von Warnungen für Flughäfen und fluggefährdende Wetterereignisse auf der Strecke. Aber auch die Sammlung und die Bereitstellung von flugklimatologischen Daten und Statistiken gehören dazu. 

Welchen DWD-Leistungen nutzen Airlines?

Doch was für Leistungen und Services des DWD nutzen die Fluggesellschaften genau? Viele Airlines werden nicht direkt vom DWD mit Wetterinformationen versorgt. Sie erhalten über IT-Systemhäuser, sogenannte Data and Navigation Provider, alle notwendigen Flugwetterinformationen. Eine weitere Schnittstelle gibt es bei der Bereitstellung von Wetterinformationen im Cockpit. Aktuelle Wetterdaten können so schneller von den Piloten erfasst und berücksichtigt werden. Wetterbedingte Umleitungen sind mit hohen Kosten verbunden und können durch eine Anpassung der Route minimiert werden.

Die ICAO hat für die Flugplanung mehrere Standardprodukte festgelegt, die der DWD entsprechend zur Verfügung stellt. Dazu zählen METAR (Flugplatzwettermeldung), TREND (Landewettervorhersage), Flughafenwetterwarnungen oder auch die Flughafenwettervorhersage TAF. Ebenso müssen Informationen über die bestehenden und erwarteten meteorologischen Bedingungen entlang der gesamten Strecke, am Flugplatz der beabsichtigten Landung und an alternativen Flugplätzen, die im Notfall angeflogen werden sollen, bereitgestellt werden. Dazu zählen neben dem signifikanten Wetter auch Informationen unter anderem zu Wind, Temperatur, Druck und Feuchte in unterschiedlichen Höhen. 

Der DWD bietet auch spezielle Produkte an, die nicht von der ICAO gefordert werden, aber für viele Fluggesellschaften von großer Bedeutung sind. Dazu gehören zum Beispiel Konvektions-Nowcasting-Produkte oder der Flugwetterdatensatz WAWFOR (World Aviation Weather Forecast) mit Vorhersagen für Wetterparameter wie Vereisung und Turbulenz.

Wie informieren sich Privatpiloten über das Wetter?

Für Privatpiloten gilt: Informationen über Freezing Level, Bewölkung und Vereisung lassen sich im Flugwetterangebot des Deutschen Wetterdienstes unter anderem in der Vorhersage der Meteogramme, finden. Auch die Cross Sections, also Vorhersagen der Bewölkung in einem Höhenprofil entlang typischer Routen, sind sehr hilfreich. Auf die Vereisungsvorhersage spezialisiert ist das Angebot ADWICE (Advanced Diagnosis and Warning system for aircraft ICing Environments) mit Vorhersagen für die nächsten zwei Tage und verschiedene Höhen. Zu erwartende Vereisung wird farblich codiert dargestellt: grün für leichte, gelb für mittlere und rot für schwere. Für ungeschützte Flugzeuge sind alle diese Gebiete tabu! Ist das Flugzeug für bekannte Vereisungsbedingungen zugelassen, so sollte es grün und gelb markierte Regionen zumindest eine Zeit lang bewältigen können. Schwere Vereisung wie gefrierenden Regen versuchen selbst Airliner zu umgehen.

Enteisungsmethoden oder Eisschutzsysteme bei Flugzeugen

Ein wesentlicher Bestandteil des Zulassungsverfahrens für Flugzeuge sind Eisschutzsysteme. Die Bildung von Eis unter kalten Wetterbedingungen muss vermieden und gleichzeitig die Energieeffizienz berücksichtigt werden. Denn die Bildung von Eis wirkt sich auf die Flugleistung und die Sicherheit aus. Eisschutzssysteme können helfen und werden in der Regel in Tragflächen, Gondeleinlässen, Pitotrohren, Stabilisatoren sowie Propeller- und Hubschrauberrotorblättern installiert.

Wie bereits weiter oben im Text erwähnt, stört Eisansatz mit seiner unregelmäßigen Form die Luftströmung und damit auch die Erzeugung des Auftriebs. Deswegen sind Enteisungssysteme an Flugzeugen vor allem an den Vorderkanten der auftriebserzeugenden Flächen angebracht, wo der Strömungsverlauf besonders wichtig ist. Die ATR 72, die jetzt in Brasilien abgestürzt ist, verfügt über mehrere Enteisungssysteme. Die Pitot-Rohe zur Geschwindigkeitsmessung, Cockpitscheiben und Propeller sind elektrisch beheizbar, während die Vorderkanten der Tragflächen und des Höhenleitwerks mit Gummihäuten überzogen sind, die sich in regelmäßigen Abständen aufblasen und so den Eisansatz sprengen. Es ist das sogenannte pneumatische System.

Bei kleineren Flugzeugen, beispielsweise einer Cirrus SR22, kommt die so genannte TKS-Technologie (weeping wings) zum Einsatz. Dabei sind Metallfolien mit winzigen Poren an allen Stellen des Flugzeugs angebracht, die bei Vereisung kritisch sind. Dort tritt dann eine Enteisungsflüssigkeit aus und verteilt sich. Bei der Cirrus SR22 sind das die Profilnasen von Leitwerk und Tragfläche sowie die Frontscheibe und der Propeller. Wichtigster Grundsatz bei der Nutzung: TKS muss rechtzeitig und am besten schon vor dem ersten Eisansatz aktivert werden, weil es besser darin ist, diesen zu verhindern als Eis zu entfernen. Deshalb wird es oft Anti-Ice-System genannt.

Enteisungsanlagen: Zwei Methoden sind üblich: Am rechten Flügel sind „Boots“ zu sehen, also Gummiwülste, die regelmäßig aufgeblasen werden und so das Eis absprengen. Links sickert Glykol-Enteisungsflüssigkeit aus kleinen Löchern und verhindert so Eisansatz.
Enteisungsanlagen: Zwei Methoden sind üblich: Am rechten Flügel sind „Boots“ zu sehen, also Gummiwülste, die regelmäßig aufgeblasen werden und so das Eis absprengen. Links sickert Glykol-Enteisungsflüssigkeit aus kleinen Löchern und verhindert so Eisansatz. Bild: Mauch

Wer ein Kolbenflugzeug fliegt, muss ebenfalls darüber nachdenken, bei welchem Wetter er fliegt. Manchmal ist ein Blick in das Flughandbuch nötig, denn darin stehen die Betriebsgrenzen. Darin kann es beispielsweise heißen: „Flüge in bekannte Vereisungsbedingungen sind verboten.“ Es sei denn, dass Flugzeug ist mit einer Enteisungsanlage ausgestattet, die für solche „Flights into known icing“ (FIKI) zugelassen sind. Neben der oben beschriebenen Enteisungsmethode TKS gibt es auch noch „Boots“, die zum Einsatz kommen. Das sind Gummimanschetten an den Vorderkanten von Tragflächen und Leitwerk, die bei Eisansatz in Intervallen aufgeblasen werden und vorhandenes Eis absprengen. Propeller und Frontscheiben werden bei so ausgerüsteten Flugzeugen elektrisch beheizt.

Flugzeugabstürze wegen Vereisung – ähnlicher Vorfall

Im Jahr 1994 stürzte eine ATR 72 der Simmons Airlines, die für American Eagle Zubringerflüge durchführte, in der Nähe von Chicago ab. An Bord sind 64 Passagiere, zwei Flugbegleiter und die beiden Piloten. Sie alle sterben bei diesem Unglück. Der abschließende Unfallbericht ist eindeutig: Der Flugzeugabsturz ist auf eine Vereisung der Tragflächen zurückzuführen. Es wurden mehrere Konsequenzen daraus gezogen.

Nur das blau-rote Seitenleitwerk von Flug AA 4184 ist noch erkennbar.
Nur das blau-rote Seitenleitwerk von Flug AA 4184 ist noch erkennbar. Bild: NTSB

Unter anderem konzipierte ART bei nachfolgenden Varianten die Enteisungssysteme der Tragflächen neu und gab neue Flugverfahren und Verhaltensregeln für Piloten, die im Eiswetter unterwegs sind, heraus. Außerdem passten die Behörden die Zulassungsverfahren für Enteisungsanlagen an. Sie werden seit 2014 auch gezielt auf ihre Wirksamkeit bei SLD, gefrierendem Regen und gefrierendem Niesel überprüft. Außerdem enthalten Luftfahrt-Wetterberichte nun konkrete Vorhersagen für die Gefahr von Supercooled Large Droplets.