Ist Fliegen so sicher wie fast nie zuvor? Eine neue Flugsicherheitsbilanz präsentiert zum Teil überraschende Ergebnisse und klärt, in welchem Land es 2023 die meisten Flugunfälle gab.

Das bisherige Rekordjahr 2017 in dem es mit nur 40 Unfallopfern die mit weitem Abstand wenigsten Toten im weltweiten Zivilluftverkehr gegeben hatte, bleibt weiter ungeschlagen. Doch 2023 belegt nach Analyse des Hamburger Flugunfallbüros JACDEC einen sehr beachtlichen zweiten Platz. Die Datenbank der Flugsicherheitsexperten weist für 2023 mit 1001 verzeichneten Unfällen und Zwischenfällen im Flugverkehr wieder das Niveau der letzten Vor-Corona-Jahre auf.

Messung von Flugsicherheit: Wie sicher war Fliegen 2023?

Die Messung von Flugsicherheit ist komplex. Jeder Flug ist tagtäglich dutzenden Risikofaktoren ausgesetzt, wie dem Wetter, der Technik am Boden und im Flugzeug, dem Können der Besatzung, der Fluglotsen und der Flughafenmitarbeiter, um nur ein paar wenige zu nennen. Sicherheit ist  für die meisten von uns zuerst ein Gefühl der Angstfreiheit. Doch Gefühle lassen sich schwer in Zahlen ausdrücken. JACDEC hat eine eigene Definition:

 

„Sicherheit ist die Abwesenheit von Unfällen und schweren Zwischenfällen.“

Legen wir diesen Leitgedanken zugrunde, hat 2023 abgeliefert. Und wie: Bei 45 Flugzeug-Totalververlusten kamen 124 Menschen zu Tode. Das waren 109 (oder 46,8 Prozent) weniger als noch im Vorjahr und 233 weniger als im Durchschnitt der letzten zehn Jahre (357). Blickt man noch weiter zurück, erkennt man, dass 2023 kein Ausreißer war, sondern die konsequente Fortsetzung eines Trends, der in den achtziger Jahren begann. Seitdem schmelzen die Opferzahlen – von Ausnahmejahren abgesehen – stetig weiter.

Zum Vergleich: 2022 starben allein auf bayrischen Straßen 519 Menschen. Das ist mehr als das Vierfache als im weltweiten Luftverkehr. Man muss mittlerweile kein Flugsicherheitsexperte mehr sein, um angesichts der sich seit vielen Jahren bestätigenden Daten zu erkennen, welch hohes Sicherheitsniveau das Verkehrsmittel Flugzeug besitzt.

Januar 2023: Absturz einer Regionalmaschine in Nepal mit 72 Toten

Dass 2023 die bereits sehr guten Zahlen des Vorjahres nochmal verbessert würden, war keinesfalls erwartbar. Im zurückliegenden Jahr wuchs der Weltluftverkehr größtenteils wieder auf das Vor-Corona-Niveau an, somit war auch folgerichtig, dass sich die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle erhöhen würde. Das ist mit einem satten Plus an Unfällen und Zwischenfällen zwar eingetreten, doch dabei gibt es eben nicht immer Opfer. Zum Glück. Ist ein Jahr ohne Todesopfer jemals denkbar? Diese Frage hätte JACDEC vor Jahren noch mit einem klaren „Nein“ beantwortet. Inzwischen scheint es, als ob diese „magische Null“ nur noch eine Frage der Zeit sein könnte.

Das Unfalljahr 2023 war von einem einzigen opferreichen Crash gleich im Januar gekennzeichnet, als beim Absturz einer Regionalmaschine in Nepal alle 72 Insassen ums Leben kamen. Damit sind 58 Prozent aller Todesopfer des gesamten Jahres bei nur einem einzigen Unglück gestorben. Dass 2023 nicht deutlich schlechter geworden ist, hat zum Teil auch mit Zufall und Glück zu tun. Allein in den USA kam es zu zehn „Runway Incursions“, bei denen nicht viel gefehlt hätte, um aus einem Zwischenfall eine Tragödie werden zu lassen. Beispielsweise startete eine Boeing 737 bei Nebel auf einer Bahn in Austin, Texas, auf die gleichzeitig eine Boeing 767 zur Landung freigegeben wurde. Da die 737 noch auf der Startbahn war, als die 767 den Flughafenzaun überflog, leitete letztere ein Durchstartverfahren ein. Doch die 737 hatte bereits ihre Entscheidungsgeschwindigkeit V1 passiert und hob ab, sodass sich beide Maschinen gefährlich nahe kamen. Ähnliche Kollisionsgefahr drohte bei Konfliktsituationen in New York-JFK und Boston. Doch jedes Mal hielt das Sicherheitssystem stand, bestehend aus Piloten, Fluglotsen, moderner Technik und einer Prise Fortune.

Personalmangel im Bereich Air Traffic Control könnte zu Fehlern führen

Fachleute und Insider bemängeln seit Jahren, dass chronischer Personalmangel im Bereich Air Traffic Control irgendwann zu einem Fehler führen wird, der in einem schweren Unfall enden könnte. Dieses Personalproblem in der Luftraumüberwachung besteht auch in Deutschland. JACDEC verzeichnete 2023 nicht weniger als 32 dieser gravierenden Flugbetriebsstörungen, im Fachjargon „Incursions“ genannt.

Gerade wir in Deutschland haben 2023 gemerkt, wie verletzlich die Infrastruktur der Verkehrsflughäfen gegenüber Angriffen ist. Mehrfach drangen „Klimakleber“ in den Sicherheitsbereich großer Airports ein durchkreuzten so zigtausende Reisepläne. Diese Aktionen gefährden zuallererst die Flugsicherheit. Im November wurde Hamburg erneut Schauplatz eines ernsten Sicherheitsvorfalls, als eine Person mitsamt einer Geisel mit dem Auto durch die Sicherheitsschranke auf das Vorfeld fuhr und den Flugverkehr für einen ganzen Tag zum Erliegen brachte.  Über die effektive Sicherung der Airports ohne zusätzliche Wartezeiten für Passagiere wird man 2024 noch einmal neu nachdenken müssen.

April 2023: Milizen eroberten den Flughafen der sudanesischen Hauptstadt Khartum

Was passieren kann, wenn in einem Land Sicherheit quasi nicht mehr existent ist, sah man im April auf dem Flughafen der sudanesischen Hauptstadt Khartum. In der „Schlacht um Khartum“ eroberten schwer bewaffnete Milizen, die seit Jahren gegen die sudanesische Armee kämpfen, den Flughafen. Sie zerstörten jedes Flugzeug, das noch intakt aussah, darunter einen Airbus A330 der Saudia und eine Boeing 737 der ukrainischen SkyUp. Am Ende des Tages gab es 24 ausgebrannte Zivilflugzeug-Wracks plus diverse zerstörte Militärflugzeuge der Regierung. Allein hier entstanden mehr als die Hälfte aller Totalverluste in der Jahresbilanz.

Beim Blick auf die westliche Welt zeigt sich: Keine der „handelsüblichen“ Airlines, war 2023 von einem tödlichen Crash betroffen. Fluggesellschaften, die im vergangenen Jahr Todesopfer zu beklagen hatten, sind allenfalls interessierten Flugzeugenthusiasten bekannt. Eine deutliche Veränderung ins Negative erfährt die Unfallbilanz auch durch die Aufnahme des Flugzeugtyps Cessna 208 Caravan in die JACDEC-Datenbank. Diese kleine Turboprop ist zwar nicht an sich gefährlich, aber sie wird oft bei sehr risikoreichen Flügen eingesetzt. Und sie hat nur einen Motor – wenn der Probleme macht, endet der Flug unausweichlich. Allein 14 Caravans wurden bei Unfällen irreparabel beschädigt. 19 Menschen starben dabei. Mit diesen Maschinen fliegt jedoch nur ein sehr kleiner Teil der weltweiten Flugpassagiere.

In welchem Land gab es die meisten Flugunfälle 2023?

Ein besonderer Fokus des Unfallgeschehens lag 2023 auf Brasilien. Hier kam es zu überproportional vielen Zwischenfällen. Eine kulturelle Besonderheit trug dazu bei: Im Land des Zuckerhuts ist es populär, zu allen möglichen Anlässen große Ballons steigen zu lassen, die Reklame für alles Mögliche machen. Mindestens viermal kam es allein im Großraum São Paulo zu gefährlichen Annäherungen mit Passagierflugzeugen.

Ein Jet im Kornfeld: Den Piloten einer A320 von Ural Airlines in Russland ging der Sprit aus – sie landeten im Segelflug auf einem freien Feld. Niemand wurde verletzt.
Ein Jet im Kornfeld: Den Piloten einer A320 von Ural Airlines in Russland ging der Sprit aus – sie landeten im Segelflug auf einem freien Feld. Niemand wurde verletzt. Foto: picture alliance/globallookpress.com/Vladislav Nekrasov Bild: Foto: picture alliance/globallookpress.com/Vladislav Nekrasov

Auf der anderen Seite des Globus zeigen die Sanktionen gegen Russland Auswirkungen auf die Flugsicherheit. So musste im August die größte Fluglinie Aeroflot die Radbremsen bei mindestens neun Maschinen deaktivieren, da Ersatzteile nicht verfügbar waren. Statt diese Maschinen am Boden zu lassen, gab es jedoch lediglich ein Memo für Piloten. Russlands Zivilluftfahrt, die zu über 80 Prozent westliche Muster betreibt, lebt immer mehr von der Improvisation. Es werden Wartungsintervalle hinausgezögert und Vorschriften ignoriert, um Flugzeuge im Betrieb zu halten. Ein größerer technikbedingter Unfall rückt in Russland immer mehr in den Bereich des Wahrscheinlichen.

Gänzlich ohne Einfluss der Sanktionen kam es im September zu einer spektakulären Außenlandung auf einem Feld. Alle 167 Insassen kamen mit dem Schrecken davon, als den Piloten eines Airbus A320 der Ural Airlines nach dem Durchstarten in Omsk auf dem Weg zum Ausweichflughafen Nowosibirsk der Treibstoff ausging. Wegen eines Hydraulikschadens fuhr das Fahrwerk nicht ein, was die Piloten aber nicht bemerkten. So stieg der Kerosinverbrauch erheblich.

Zivilluftfahrt: In welchem Land gab es die meisten Todesopfer?

Die mit weitem Abstand opferreichste Weltregion war wegen des Unglücks in Pokhara, Nepal, der Nahe und Mittlere Osten mit 72 Todesopfern (58,0 Prozent). Es folgt Lateinamerika mit 29 Todesopfern und einem Anteil von 23,5 Prozent. Drittschlimmste Region war mit zehn Opfern (8,1 Prozent) das Gebiet der GUS-Staaten mit Russland. In der Region Asien/Pazifik kam es zu sechs Todesopfern (4,8 Prozent). Mit nur vier Toten (3,2 Prozent) kam Nordamerika davon. Europa verzeichnete nur zwei Todesopfer (1,6 Prozent) an Bord von größeren Zivilflugzeugen, beide bei Fallschirmsprungflügen. Der Spitzenplatz geht an Afrika, wo es nur ein Todesopfer (0,8 Prozent) gekommen war. Das ist bemerkenswert, da Afrika in den meisten Jahren viele Flugunfallopfer zu verzeichnen hat.

Abseits aller Gefühle liefern die Zahlen eine klare Erkenntnis: Fliegen ist so sicher wie fast nie zuvor.

Die 25 größten Fluggesellschaften weltweit.

Wie errechnet sich die Sicherheitsbilanz 2023?

Die Sicherheitsbewertung des Hamburger Flugunfallbüros JACDEC in Zusammenarbeit mit AERO INTERNATIONAL hat seit Jahren das gleiche Grundprinzip: Wir stellen die Unfallhistorie einer Fluglinie gegen ihre Verkehrsleistung, gemessen in„Revenue Passenger Kilometers“ (RPK). Betrachtet werden nur die 25 Airlines mit der größten Verkehrsleistung weltweit.

Bei der Unfallhistorie verlassen wir uns auf die JACDEC-Datenbank, die mehr als 30 000 Zwischenfälle umfasst. Eine wichtige Quelle sind dabei öffentlich zugängliche Berichte von Luftfahrtbehörden weltweit. Die Zwischenfälle sind nach ihrer Schwere gewichtet. Um eine Verbesserung der Sicherheit einer Fluglinie zu belohnen, wird der Einfluss eines Unfalls auf die Bewertung immer geringer wird, je weiter dieser zurückliegt. Nach 30 Jahren hat ein Unfallereignis keinen Einfluss mehr.

Berücksichtigt werden auch Faktoren wie die Qualität der kontrollierenden Behörden, der Zustand der lokalen Luftfahrtinfrastruktur, Witterungseinflüsse, das Flottenalter oder das Routenprofil. Hier dienen uns Daten von Institutionen wie der Weltbank oder der internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO als Basis. So entsteht eine Bewertung, die sich von einem nur theoretisch erreichbaren Bestwert von 100 Prozent abwärts orientiert. Jeder Unfall, jeder Tote und Verletzte, aber auch jeder Zwischenfall und Risikofaktoren mindern den Risiko-Index einer Airline.

Bei der Interpretation des Rankings kommt es weniger auf Platzierungen an, sondern auf den Indexwert. Auch gibt es keinen Grund zur Verunsicherung bei den genannten Airlines: Keine von ihnen musste 2023 einen Totalverlust eines Flugzeugs hinnehmen oder gar ein Todesopfer unter Ihren Insassen beklagen.

Lesen Sie mehr zum Thema Flugsicherheit mit spannenden Grafiken und Tabellen in der Ausgabe 2/2024 von AERO INTERNATIONAL. Das Heft erscheint am 12. Januar. Weitere Informationen zum Magazin unter Prämienabo.

Text: Christian Wolf