Flughafen Genf im großen Airport-Porträt
Auch wenn der Westschweizer Flughafen sein Streckennetz-Potenzial zumindest in Europa nahezu ausgeschöpft hat, stehen in den kommenden Jahren wichtige Infrastrukturprojekte auf der Agenda.
Wer auf der Besucherterrasse des Flughafens Genf steht und seinen Blick auf das Vorfeld richtet, dem fallen neben dem langgezogenen Bergkamm des Crêt de la Neige auch die Farben Orange und Rot ins Auge, die auf den Rümpfen oder Leitwerken der an den Gates stationierten oder vorbeirollenden Verkehrsflugzeuge prangen. Wen wundert‘s, sind doch EasyJet und Swiss am Standort Cointrin die dominierenden Carrier, was das Passagieraufkommen angeht.
Flughafen Genf: nur Zürich besser
Der britische Low-Coster kam 2022 mit 6,9 Millionen beförderten Fluggästen auf einen Marktanteil von 49,5 Prozent, bei
Swiss lauten die entsprechenden Werte 1,6 Millionen Passagiere bei einem Marktanteil von 11,5 Prozent. Insgesamt bestiegen am Westschweizer Airport im vergangenen Jahr knapp 14,1 Millionen Reisende – 21 Prozent weniger als im Vor-Coronajahr 2019 – ein Flugzeug der 52 vor Ort vertretenen Airlines. Damit steht Genf unter den helvetischen Flughäfen hinter Zürich an zweiter Stelle.
Das war allerdings nicht immer so: 1948 beispielsweise flogen 166.300 Passagiere über den Genfer Airport, was ihm damals die Spitzenposition einbrachte, denn der Konkurrent aus der Deutschschweiz brachte es lediglich auf 132.600 Fluggäste. Hinzu kommt, dass sich Genf – und nicht etwa Zürich – mit der Ankunft einer DC-4 von TWA drei Jahre zuvor erster Schweizer Interkontinentalflughafen nennen durfte. Die damalige Swissair bediente bis 1947 ab Genf nur Europastrecken – etwa Paris, London, Barcelona, Lissabon und Brüssel. Im Mai desselben Jahres nahm dann auch sie mit New York die erste Transatlantikverbindung auf.
Flughafen Genf: Fluggastaufkommen nähert sich Vorkrisenniveau
Konzentration auf Europa Zurück in die Gegenwart: In den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres wurden etwas mehr als acht Millionen Passagiere gezählt. Für das gesamte Jahr 2023 erwartet Flughafendirektor André Schneider 16,1 Millionen Fluggäste, was noch zehn Prozent weniger wären als 2019, wie er im Gespräch mit AERO INTERNATIONAL erklärt. Obwohl sich das Aufkommen also wieder dem Vorkrisenniveau nähert, sind dem Wachstum in Genf Grenzen gesetzt: „Bis 2017 sind wir pro Jahr fast fünf Prozent gewachsen. Seither ist die jährliche Zunahme viel geringer. Und das wird sich in den kommenden Jahren auch nicht ändern“, ist Schneider überzeugt. Das hat damit zu tun, dass der Airport kein Hub ist, sondern ein Punkt-zu-Punkt-Flughafen mit einem klaren Fokus auf Europa.
90 Prozent aller Passagiere, die in Genf ein Flugzeug besteigen, fliegen zu einem europäischen Ziel. Da die meisten der insgesamt 146 angebotenen Ziele aktuell in Europa liegen, werde die Zahl der Destinationen auf dem Alten Kontinent kaum mehr wachsen, ergänzt der Flughafenchef. Hingegen schließt er Frequenzerhöhungen auf bestehenden Strecken nicht aus, denn die Nachfrage sei derzeit viel größer als das Angebot.
Was den wichtigen Markt England angeht, hat sich der Brexit weniger stark ausgewirkt als befürchtet: „Die Kaufkraft der Engländerinnen und Engländer hat zwar abgenommen, was sich vor allem auf den Umsatz der am Flughafen angesiedelten Läden ausgewirkt hat. Erstaunlicherweise hat sich aber das Interesse der britischen Bevölkerung, in der Westschweiz Skiurlaub zu machen, nicht wirklich verringert. Hinzu kommt, dass auch das Aufkommen in die umgekehrte Richtung – also von der Schweiz nach England – durchaus respektabel ist“, so Schneider.
Flughafen Genf: Langstrecke mit Luft nach oben
Zulegen könnte hingegen der Langstreckenverkehr. Laut Schneider liegt die Auslastung bei den Flügen nach Nordamerika, also New York-JFK und Newark, Washington sowie Montréal, bei mehr als 80, teilweise sogar über 90 Prozent. Auch andere Destinationen wie Peking, Addis Abeba und die Metropolen in den Golfstaaten würden wieder wachsen. Teilweise sei das Aufkommen im Interkontinentalverkehr sogar höher als vor der Krise. Das Wachstum zeigt sich beispielsweise in der Verwendung größeren Fluggeräts. So setzt Air Canada anstelle der früher eingesetzten A330-300 und Boeing 787-8 zwischen Genf und Montréal seit neuestem die größere Boeing 777-300ER ein.
Nach Asien gibt es derzeit nur eine Verbindung nach Peking durch Air China, aber weitere Ziele sind laut Schneider denkbar: „In den kommenden zwölf Monaten wird da etwas passieren“, prognostiziert der Flughafendirektor, „und dies durchaus nicht nur im Reich der Mitte.“
Bei der Eröffnung neuer Langstreckenziele ab Genf könnte kleineres Fluggerät wie die A321LR oder XLR in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, vor allem deshalb, weil der Westschweizer Airport kein Hub und für sehr große Flugzeuge daher weniger geeignet ist. So sei man mit verschiedenen Airlines aus Afrika und Nordamerika in Kontakt, die sich überlegen, Genf mit diesen Flugzeugmustern anzufliegen.
Finanziell Corona immer noch spürbar
Weil das Einzugsgebiet von Cointrin bis in den Großraum Lyon reicht, stellt sich die Frage, ob die beiden Airports in Konkurrenz zueinander stehen. Schneider verneint dies: „Lyon bietet Strecken an, die wir nicht im Programm haben. Man kann also nicht von Konkurrenz sprechen, sondern eher von einer Ergänzung zu Genf.“ Dazu komme, dass die Reise von Genf nach Lyon sehr langwierig sei, ob mit dem Zug oder mit dem Auto. Das Verhältnis zwischen den beiden Flughäfen sei freundschaftlich, man versuche sich gegen- seitig zu unterstützen.
Was die finanzielle Situation angeht, sind die Auswirkungen der Pandemie immer noch spürbar. Die hohen Verluste, die in jener Zeit entstanden waren, mussten mittels Anleihen auf dem Finanzmarkt gedeckt wer- den, zumal der Flughafen als Staatsbetrieb nicht über unbegrenzte eigene Reserven verfügt. 2021 beliefen sich die Schulden auf 772 Millionen Franken, im vergangenen Jahr waren es immer noch 684 Millionen. Für das laufende Jahr lautet das Ziel, die Schulden auf mindestens 2,5 Prozent des EBITDA (Gewinn ohne Berücksichtigung von Zinsen, Steuern, Abschreibungen und sonstiger Aufwendungen) zu senken, also einen Wert zu erreichen, wie er vor der Krise Gültigkeit hatte. „Wir sind dazu verurteilt, Gewinne zu machen. Sonst wird die Zukunft des Flughafens sehr schwierig“, fasst Schneider die heikle finanzielle Lage zusammen.
Flughafen Genf: Durch Bauvorhaben mehr Platz für Passagiere
Dazu kommt, dass in den kommenden zehn Jahren massive Investitionen anstehen. Der Entwicklungsplan 2034 sieht Kosten in Höhe von 1,7 Milliarden Franken vor. Größtes Projekt ist der Bau eines neuen Terminals, das die alte, aus dem Jahr 1968 stammende Abflughalle ersetzen soll. Dazu gehören neue Abfluggates für Flüge in die EU und in den Non-Schengen-Raum, wobei es mehr sogenannte Wiwos (Walk-in- und Walk-out-Gates) geben soll, damit die Passagiere das Flugzeug vorne und hinten gleichzeitig besteigen können. Diesen Vorteil wissen vor allem die Billigairlines zu schätzen, weil sich dadurch die Turnaround-Zeiten verkürzen lassen.
Von der Neugestaltung des Abflugbereichs sind auch der Flughafen- und Busbahnhof betroffen. Die Planung sieht vor, dass die erste Hälfte der Arbeiten bis 2034 vollendet ist, der Flugbetrieb soll dabei normal weiterlaufen. Gleichzeitig will der Flughafen Genf auch einen Beitrag an der Energiewende leisten, indem zukünftig nicht mehr mit fossilen Brennstoffen geheizt werden soll, sondern mit Wasser, das dem Genfersee entnommen und durch Wärmepumpen geleitet wird. Ziel der Um- und Neubauten ist nicht in erster Linie die Erhöhung der Kapazität, denn das Wachstum wird in den kommenden Jahren lediglich etwas mehr als ein Prozent betragen. Vielmehr geht es darum, für die Passagiere mehr Platz zu schaffen, weil die Raumverhältnisse in den vergangenen Jahren eng geworden sind.
Virtueller Turm am Horizont
Schließlich harrt ein weiteres, wichtiges Projekt der Umsetzung: die Errichtung eines Remote Towers. Hintergrund ist die Tatsache, dass der bisherige Genfer Kontrollturm in die Jahre gekommen ist und bald umfangreiche und teure Renovierungsarbeiten nötig gewesen wären, um ihn weiterhin dauerhaft zu betreiben.
Die Flugsicherung Skyguide hat daher beschlossen, auf das Konzept des virtuellen Towers zurückzugreifen, das sich weltweit schnell entwickelt und durch den Einsatz neuer Technologien zahlreiche Vorteile bietet. Zunächst sollen die Abflugpositionen, also die Arbeitsplätze im Kontrollzentrum, modernisiert werden. Wie der physische Tower wird der virtuelle Turm eine 360- Grad-Sicht der Flughafenumgebung bieten. Die Kameras werden dabei so optimiert, dass die Fluglotsen über die besten Blickwinkel für das Verkehrsmanagement verfügen, unabhängig von der Richtung der Start- und Landebahn.
Ebenso werden sie von Anfang an von Kontrast- und Helligkeitsoptimierungen profitieren können und Unterstützung durch Augmented-Reality-Systeme erhalten, die Bewegungen erkennen, die mit bloßem Auge nur schwer zu sehen sind. Dazu kommt, dass ein physischer Turm, der beispielsweise eine Aufzugssteuerung benötigt und geheizt werden muss, viel weniger CO2 ausstößt und wartungsintensiver ist als ein Remote Tower. Laut Skyguide zeigen die durchgeführten Studien, dass die Kosten wesentlich niedriger sein werden als der Bau eines neuen Turms.
Schweizer Flugsicherung übernimmt Kosten
Als Initiantin des Projekts wird die Schweizer Flugsicherung, die auch Eigentümerin des derzeitigen physischen Turms ist, für diese Kosten aufkommen. „Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass das Projekt durch externe Beteiligungen, die derzeit geprüft werden, unterstützt werden kann“, ergänzt Prisca Huguenindit-Lenoir, Pressesprecherin von Skyguide. Wie das Unternehmen weiter mitteilt, werden der virtuelle Tower und die neuen Anflugpositionen im heutigen, im südlichen Teil des Flughafens beheimateten Kontrollzentrum zusammengeführt. Sobald der neue virtuelle Turm wie geplant im Jahr 2030 in Betrieb geht, soll der physische abgerissen werden. Voraussetzung ist allerdings, dass weitere Abklärungen diese Terminplanung stützen.
Text: Thomas Strässle