Berlin Welcome to Berlin-Tegel: Während die BER-Baustelle im märkischen Sand versinkt, blüht der betagte West-Berliner Airport neu auf. Nicht alles ist dort modern, aber es funktioniert. Tegel ist Berlins alter und neuer Hauptstadtflughafen – ganz unaufgeregt. Berlin steht ja angeblich kurz vor dem Untergang, rein verkehrstechnisch. Aber noch hupt und brummt es in der Stadt […]

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Welcome to Berlin-Tegel: Während die BER-Baustelle im märkischen Sand versinkt, blüht der betagte West-Berliner Airport neu auf. Nicht alles ist dort modern, aber es funktioniert. Tegel ist Berlins alter und neuer Hauptstadtflughafen – ganz unaufgeregt.

Berlin steht ja angeblich kurz vor dem Untergang, rein verkehrstechnisch. Aber noch hupt und brummt es in der Stadt ganz ordentlich. Den größten Krach gibt es am Flughafen Tegel. Ja, Berlin hat auch einen Hauptstadtflughafen, der in Betrieb ist. Und zwar in Hochbetrieb, internationales Kürzel: TXL. Donnernd heben die Flieger in die Lüfte ab, mitten im Stadtgebiet.

Die nächsten gehen nach Stockholm, Dubai und Köln-Bonn, wie die Anzeigetafel verrät. Geschäftsleute eilen zum Schalter. Einer schleift seinen Rollkoffer hinter sich her wie einen lauffaulen Hund. Besser gelaunt sind ein paar junge Leute, die von Tegel aus in den Skiurlaub starten. «Flughafen-Chaos» in der deutschen Hauptstadt, war da was?

Auch in Berlin ist es wieder kalt geworden. Leichter Schneefall hat sich wie Puderzucker über die Häuser gelegt. Knackiger Dauerfrost. Aber: Die Stadt lebt. Das Desaster um den neuen Hauptstadtflughafen BER erschüttert die Politik und beschäftigt die Medien. Viermal ist die Eröffnung nun geplatzt, wohl wegen massiver Fehler bei Planung und Bau. Die ganze Welt spotte über Berlin, ist in diesen Tagen zu hören. Aber die Menschen scheinen auch ohne BER ganz gut vom Fleck zu kommen – ob in den Urlaub oder zum nächsten Geschäftstermin.

Diese Woche stehen zwei Messen an: die Grüne Woche und die Modemesse Bread & Butter. Tausende Besucher, aber die Stadt wird es meistern. «Wir erwarten keinerlei Engpässe», sagt ein Sprecher der Messe Berlin. Denn es gibt ja noch Tegel. Eigentlich sollte der betagte Airport längst geschlossen sein. Aber wegen des BER-Chaos erlebt die «alte Lady» eine Renaissance, wie es jemand im Terminal nostalgisch formuliert.

Und was für eine: Der nach dem Luftfahrtpionier Otto Lilienthal benannte Flughafen Tegel wurde einst für gut sechs Millionen Reisende im Jahr gebaut, zu Zeiten des Kalten Krieges. Heute boomt Berlin, aus aller Welt reisen Touristen an. Und Tegel platzt aus den Nähten. 2012 wurden rund 18 Millionen Passagiere abgefertigt. Am Spitzentag 28. September wurden 75 000 Fluggäste bei 630 Starts und Landungen gezählt. Hält der Trend an, wird Tegel bald Düsseldorf als drittgrößten Flughafen Deutschlands überholen.

Die Klukes aus dem Stadtbezirk Reinickendorf sind Tegel-Fans. Regelmäßig besucht das Ehepaar das sechseckige Hauptterminal, klettert in einem der Treppentürme auf den höchsten Aussichtspunkt und beobachtet die startenden und landenden Jets. «Tegel hustet», sagt Andreas Kluke poetisch und meint die Kapazitätsgrenze, an der sich der Airport angeblich befindet. Manchmal stauten sich acht, neun Flieger vor der Startbahn. «Dann ist es knüppeldicke voll», berichtet Kluke. Er und seine Frau sind leidenschaftliche Planespotter: Sie können sich stundenlang Flugzeuge anschauen, ohne sich zu langweilen. Nur Arabelle, die Pudelhündin der Klukes, sieht etwas angeödet aus.

Manchmal ist nicht so viel los in Tegel. Vor manchen Check-Ins und Reisebüros herrscht geradezu gähnende Leere. Wie kommt das, wo sonst immer so geredet wird, als stünde in Berlin der Verkehrskollaps bevor? «Es liegt an den Zeiten», erklären die Klukes. Mal sei es voll in Tegel, und dann wieder leer. Am Schalter der offiziellen «Airport-Information» wird das bestätigt. «In den letzten Tagen war es sehr ruhig», sagt die Schichtleiterin. Wann war das letzte Mal Chaos? Daran kann sich die Informations-Frau nicht erinnern – vielleicht beim Eisregen im vergangenen Jahr, meint sie. «Jeder empfindet da eben auch anders.»

Klaus Wowereit (SPD), Berlins Regierender Bürgermeister, muss sich wegen des BER-Desasters einem Misstrauensantrag stellen. Er habe das Ansehen der Stadt national wie international schwer beschädigt, heißt es in dem Antrag der Opposition. Der aber scheitert an der Mehrheit der rot-schwarzen Regierungskoalition. Klaus Wowereit nimmt das Ergebnis mit gefalteten Händen entgegen, er darf im Amt bleiben. «Alles andere wäre auch fatal gewesen», findet er. Viele hätten sich über seine Abwahl gefreut. Wowereits Popularitätsabsturz bei den Bürgern ist dramatisch.

Fatal bleibt die Kostenexplosion, die mit den Pannen am neuen Hauptstadtflughafen verbunden ist. Das Projekt wird nach jüngster Kalkulation mindestens 4,3 Milliarden Euro kosten, mehr als doppelt so viel wie anfangs angegeben. Gleichzeitig stöhnen die Berliner Bezirke unter notorischem Sparzwang. Für Schulen, Schwimmbäder und soziale Projekte steht immer weniger Geld zur Verfügung. «Das ist der eigentliche Skandal», sagt Hans-Christian Ströbele.

Der Grünen-Politiker mit dem schlohweißen Haar, der stets mit dem Fahrrad zum Bundestag fährt, steht heute ausnahmsweise mal an einem Schalter im Airport Tegel. «Ich fliege ganz selten», sagt Ströbele. Aber seine Frau hat gleich einen Flug und ist in Eile. Wenn Sie Durcheinander sehen wollen, empfiehlt sie, dann gehen Sie zum Ankunftsbereich. An der Gepäckausgabe habe sie neulich 45 Minuten auf ihre Koffer warten müssen, sagt Frau Ströbele.

Für das Gepäck zuständig ist in Tegel der Bodenverkehrsdienstleister Globeground. Das Personal kann man an den signalgelben Westen erkennen. Die Mitarbeiter seien in den vergangenen Monaten «absolut an ihre Grenzen gegangen», erklärt eine Sprecherin des Unternehmens. Und die «Dauerbelastungen» würden wohl noch größer. «Hierbei bitten wir um die Unterstützung und das Verständnis der Partner und Passagiere.»

Zuletzt etwa kehrte die Lufthansa-Tochter Germanwings dem Flughafen Schönefeld den Rücken und wickelt ihre Berlin-Flüge nun komplett über Tegel ab. Kein Wunder, dass die Flughafengesellschaft am Freitag einen neuen Passagierrekord meldete: Erstmals seien mehr als 25 Millionen Fluggäste – exakt 25 261 192 – in Schönefeld und Tegel abgefertigt worden. Das Gros der Flüge geht über Tegel.

Vielleicht sollte Globeground mehr Personal einstellen, um die Mehrarbeit zu bewältigen. Die Unternehmenssprecherin will sich zur gegenwärtigen Situation aber nicht näher äußern, «aus unternehmerisch-politischen Gründen», sagt sie.

Auf unternehmerisch-politischer Ebene sind in Berlin gerade viele sensibel. Deshalb wollen die meisten im Zusammenhang mit dem BER-Debakel nicht ihren Namen nennen: weder die Globeground-Sprecherin oder die Frau von der Airport-Information, noch die Reisebüro-Angestellte, vor deren Schalter gerade so gar nichts los ist. Die junge Frau arbeitet seit Jahren im Tegeler Hauptterminal. Das letzte Mal richtig voll sei es im Sommer zur Ferienzeit gewesen, sagt sie.

Den unangenehmsten Job hat wohl die Klofrau. Sie sitzt im Keller des Airports und muss Sanitäranlagen aus dem vergangenen Jahrhundert in Schuss halten. Hier sieht es wirklich so aus, als sei noch Ost-West-Konflikt und die Stadt werde durch Mauer und Stacheldraht getrennt. Hin und wieder wirft ein Toilettenbesucher der Klofrau ein paar Cents hin. Piekfein ist es dagegen ein paar Etagen höher im Restaurant «Red Baron». Dort kann man für 27,90 Euro Hirschkalbsrücken bestellen. Die Preise der Airport-Gastronomie sind der Gegenwart schon angepasst.

Den Flughafen Tegel rundum zukunftsfit zu machen, wird viel Geld kosten. Und weil niemand weiß, wann der neue Hauptstadtflughafen BER endlich eröffnet werden kann, haben sich die Berliner Landespolitiker Bemerkenswertes einfallen lassen: Sie wollen den Tegeler Airport, der schon längst Geschichte sein sollte, sanieren. Das kündigte Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) an.

Denn die Lufthansa etwa verlangt inzwischen eine grundlegende Erneuerung des Flughafens Tegel. Die Gepäckanlage müsse überholt, die Technik-Einsatztruppe für Störfälle ausgeweitet und die Boarding-Computer erneuert werden, forderte ihr Vorstandsbevollmächtigter für Berlin, Thomas Kropp, in der «Berliner Zeitung». Am Mittwoch sollen die Investitionen ein Schwerpunkt der Aufsichtsratssitzung von Lufthansa sein.

Laut Stadtentwicklungssenator Müller prüft derzeit eine Koordinierungsrunde, ob es für einen längeren Flugbetrieb in Tegel bauliche Veränderungen geben müsse, etwa bei der Gepäckabfertigung und bei den sanitären Anlagen. Die Mehrkosten für das Land Berlin seien noch nicht zu beziffern. Nach einem Bericht des Magazins «Focus» könnte der Weiterbetrieb von Berlin-Tegel bis zur nächstmöglichen Inbetriebnahme des neuen Hauptstadtflughafens BER weitere 120 Millionen Euro verschlingen.

Die Klukes aus Reinickendorf wird es freuen, wenn der Airport Tegel noch ein paar Jahre länger existiert. So lange kann sich das Ehepaar Flugzeuge anschauen gehen, direkt in der Nachbarschaft. Und es werden mehr Flieger, ab März soll es eine Direktverbindung nach Chicago geben. Alexandra Kluke freut sich schon auf die Langstreckenjets. «Das fasziniert mich», sagt die 41-Jährige mit kindlicher Begeisterung.

Das Milliardengrab BER in Schönefeld scheint in diesem Augenblick weit weg. Vielleicht wird die Baustelle irgendwann im märkischen Sand versinken, manche sprechen schon von Abriss. Die «alte Lady» Tegel wird dagegen weiter wachsen – Berlins alter und neuer Hauptstadtflughafen. In Souvenirläden gibt es jetzt Postkarten mit dem Schriftzug «I love TXL.»

Haiko Prengel, dpa