Transair Flug 810: Piloten überleben schweren Frachter-Absturz
Verkehrsflugzeuge können problemlos auch mit nur einem funktionierenden Triebwerk in der Luft bleiben. Dazu müssen die Piloten korrekt analysieren, welcher Motor defekt ist und welcher läuft. Das war bei Flug 810 der Transair nicht der Fall.
Die hawaiianische Transair war keine große Nummer. Jeder kannte jeden. Besonders eng waren die Piloten verbunden, denn es gab nur zwei Dutzend. Transair war ein Markenname von Rhoades Aviation, einem Frachtflugunternehmen aus Columbus im US-Bundesstaat Indiana, das lange Zeit mit Propellerflugzeugen vom Typ Shorts 360 geflogen war.
Frachter von Transair bei Luftfahrtbehörde bekannt
Der Lufttransport von Post, Paketen und Waren aller Art zwischen Honolulu und den Inseln des Hawaiianischen Archipels war die Haupteinnahmequelle der Gesellschaft. Hierzu hatte sich die Airline fünf steinalte Boeing 737-200 beschafft. Diese Flugzeuge konnten auch weiter entfernte Inseln wie Midway, Wake oder Guam erreichen. Alle fünf Cargo-Maschinen waren ehemaligen Passagierflugzeuge. Das Durchschnittsalter der Flotte betrug 37 Jahre. Die Triebwerke vom Typ Pratt & Whitney JT8D benötigten viele Wartungsstunden, damit der Flugbetrieb störungsfrei lief. Doch die alten Jets fügten sich bei Transair gut in den Betrieb ein. Ein lukrativer Vertrag mit dem US Postal Service war da sehr hilfreich.
Doch am Himmel über Hawaii sah man das in Grün und Orange lackierte Leitwerk der Fluglinie nicht oft. Das lag daran, dass Transair eine weitgehend nachtaktive Airline war. Bei der US-amerikanischen Luftfahrtbehörde FAA dagegen war Transair ein guter Bekannter. In den 25 Jahren vor dem Unfall hagelte es Bußgelder, weil Wartungsstandards nicht eingehalten wurden, Geschäftsberichte und Logbücher unvollständig waren oder Mitarbeiter bei Drogentests durchfielen. Dennoch gelang es immer wieder, eine Stilllegung des Flugbetriebs zu verhindern. Es ging weiter wie gewohnt. Bis zum 2. Juli 2021.
Nächtlicher Start in Honolulu
In dieser Nacht war die Boeing 737-200 mit der Kennung N810TA für den Flug mit der Nummer 810 zur Insel Kahului vorgesehen. Sie wurde 1975 gebaut und 1995 zum Frachter modifiziert. Etwa zehn Tonnen Fracht wurden zugeladen, während die Piloten mit ihren Flugvorbereitungen beschäftigt waren. Insgesamt sechs gemeinsame Flüge sah der Dienstplan der Piloten für diese Nacht vor. Beide waren erfahrene Flugzeugführer. Der 51 Jahre alte Kapitän konnte insgesamt 15.781 Flugstunden vorweisen, davon 871 auf der Boeing 737-200. Der ein Jahr jüngere Copilot hatte 5272 Stunden Flugzeit, davon 908 im Cockpit einer 737.
Bei seinem Rundgang um die Boeing entdeckte deckte der Copilot einen Ölfleck am rechten Triebwerk. Nach Prüfung durch einen Mechaniker wurde er als unbedenklich eingestuft. Als gegen 1.15 Uhr alles bereit war, rollte der Frachtjet in Richtung Startbahn 08R. Der Copilot war als fliegender Pilot eingeteilt. Der Nachthimmel war sternenklar, die Sichtweite exzellent, die Temperatur lag bei 26 Grad Celsius. Ein leichter Wind wehte aus östlichen Richtungen. Um 1.32 Uhr erhielt der Jet mit dem Funkrufzeichen „Rhoades Express 810“ die Startfreigabe und die beiden JT8D-Turbinen donnerten los.
Triebwerksausfall beim Frachter kurz nach Start
Der Copilot löste die Bremsen und Flug 810 setzte sich in Bewegung. Kurz darauf erhob sich die 727-200 in die Luft. Während das Fahrwerk einfuhr, folgte der Copilot der Lärmschutzroute in einer leichten Rechtskurve. Plötzlich gab es einen dumpfen Knall, gefolgt von lautem Rumpeln. Gleichzeitig verlor das rechte Triebwerk an Leistung.
Die Piloten bemerkten den Schubunterschied sofort. Das Triebwerk Nummer zwei auf der rechten Seite war 1968 gebaut worden. Es hatte seitdem 72.871 Stunden in der Luft verbracht und dabei 69.446 Starts und Landungen absolviert. Das JT8D war eine Entwicklung der sechziger Jahre mit niedrigem Nebenstromverhältnis, von dem bis 1985 etwa 14.000 Exemplare gebaut wurden. Wie sich später herausstellen sollte, war aufgrund von Materialermüdung im Hochdruck-Turbinenbereich des rechten Triebwerks zwei Schaufelblätter gebrochen. Die mit hoher Energie wegfliegenden Trümmerteile beschädigten weitere Triebwerksbereiche, sodass die Turbine unrund lief und an Schubkraft verlor. Das linke Triebwerk arbeitete aber völlig normal.
CPT: „Ja, Du hast die Nummer zwei verloren..“
COP: „Nummer zwei. Ja.“
CPT: „Nummer zwei.“
Der Copilot musste ins linke Seitenruder treten, um den Rechtsdrall zu kompensieren. Gleichzeitig fuhr der Kapitän die Klappen
ein und reduzierte den Triebwerksschub von Startschub auf Steigleistung. Der Autopilot, der selbständig per Schubeinstellung die Zielgeschwindigkeit und Höhe gehalten und dadurch die Piloten entlastet hätte, blieb ausgeschaltet.
CPT: „Rhoades 810, wir haben ein Triebwerk verloren. Wir sind auf Kurs 220, bleiben auf 2000 Fuß und erklären eine Luftnotlage. Wie hören Sie uns?“
Wahrnehmungsfehler der Piloten des Frachters
Die Lotsin der Abflugkontrolle bestätigte die Notfallmeldung und gab Flug 810 frei zur Landung auf der nächstgelegenen Piste 4R, deren Lichter in etwa fünf Kilometern Entfernung am rechten Fenster des Copiloten vorbeizogen. Doch die beiden waren für eine sofortige Rückkehr noch nicht bereit und erbaten Zeit für den Schwenk zurück zum Flughafen Honolulu.
Die Maschine flog jetzt in etwa 660 Metern Höhe. Dort wollte die Crew bleiben, der Copilot senkte daher die Flugzeugnase und der Frachtjet nahm Geschwindigkeit auf. Um die in dieser Höhe maximal erlaubte Geschwindigkeit von 250 Knoten nicht zu überschreiten, zog der Copilot beide Triebwerkshebel beinahe auf Leerlauf zurück.
So bewegten sich die Zeiger beider Triebwerksanzeigen auf sehr ähnliche Werte hinunter. Nahe der Null-Schub-Stellung lässt sich ein fehlerhaftes Triebwerk nur äusserst schwer an abweichenden Anzeigen wie Druckverhältnis (EPR), Austrittsgas-Temperatur (EGT) oder der Umdrehungszahl des Fans (N1) erkennen. Auch lässt das Giermoment nach. Der linke Fuß musste nicht mehr länger auf dem Ruderpedal stehen, um die Maschine geradeaus zu halten. Die Piloten hatten sich also quasi sämtlicher Anzeichen beraubt, das fehlerhafte Triebwerk eindeutig identifizieren zu können.
Kapitän übernimmt das Fliegen, Copilot den Funkverkehr
Beide wechselten ihre Aufgaben. Der Kapitän übernahm die Flugsteuerung, während der Copilot den Funkverkehr abwickelte.
Sein Blick scannte kurz über die erleuchteten Anzeigen der Triebwerke. Da der Triebwerkshebel des rechten ein paar Millimeter über dem linken stand, wies Nummer zwei eine etwas höhere Austrittsgastemperatur (EGT) auf. Das verleitete den Kapitän zu glauben, dass das linke – völlig einwandfrei arbeitende Triebwerk – das Problem war.
CPT: „Welches hat die EGT?“
COP: „Es sieht so aus, als wäre es die Nummer eins.“
CPT: „Nummer eins ist aus?“
COP: „Es ist aus, ja. So, dann haben wir Nummer zwei in Ordnung.“
So verankerte sich der falsche Gedanke in den Köpfen der Crew, dass nur noch das rechte Triebwerk zur Verfügung stand. Flug 810 entfernte sich weiter von der Küste. Um Höhe und Geschwindigkeit zu halten, wurde der Schub auf dem vermeintlich intakten Triebwerk Nummer zwei erhöht. Die beschädigte Brennkammer lief durch die erhöhte Kerosinzufuhr schnell heiß. So heiß, dass die EGT-Anzeige in den roten Bereich wanderte. Mit einem Triebwerk im Leerlauf und dem anderen heiß laufend unterhalb von 2000 Fuß über dem Meer zu fliegen, fühlte sich nicht gut an. So unterbrach der Kapitän seinen Co beim Lesen der Notfall-Checkliste, um die Rückkehr zum Platz einzuleiten. Der Checklisten-Punkt „Verifizieren des ausgefallenen Triebwerks“ kam so nicht mehr zum Zug. Eine Überprüfung der falschen Ausgangsthese wurde nicht mehr in Erwägung gezogen.
Fatale Fehleinschätzung kurz vor Absturz
Die Temperaturwerte am rechten Triebwerk stiegen jenseits der roten Markierung. Um das vermeintlich einzig funktionierende Triebwerk nicht gänzlich zu verlieren, reduzierte der Kapitän in einer Höhe von nur 330 Metern den Schub. Die Geschwindigkeit sank auf 157 Knoten, was die 737 in dieser Konfiguration ohne ausgefahrene Landeklappen gefährlich nahe an einen Strömungsabriss brachte. Deshalb sprang das Rüttelsystem der Steuersäulen (auf Englisch „Stick Shaker“) an. Eilig wurde der Triebwerkshebel zwei wieder nach vorn geschoben, die Geschwindigkeit erhöhte sich auf 170 Knoten. Doch der Sinkflug hielt weiter an. Hätten sie nur den Hebel Nummer eins ein klein wenig nach vorn geschoben, wäre die Notlage sofort vorbei gewesen. Stattdessen wurden die Klappen auf die erste Stufe ausgefahren, um sich ein klein wenig mehr von der Gefahr eines Strömungsabrisses fern zu halten. Es stand nicht gut um Flug 810.
Die „Too Low, Terrain“-Warnung ertönte bei 120 Meter Höhe über den Wellen. Die Lotsin versuchte den Piloten zu helfen, gab Kursanweisungen und brachte angesichts einer drohenden Wasserlandung den Flugplatz Kalaeloa ins Spiel. Der ehemalige Stützpunkt der U.S. Navy wird von Kleinflugzeugen genutzt und liegt zwölf Kilometer westlich vom internationalen Airport. Kalaeloa war allerdings zu dieser Nachtstunde unbeleuchtet. In ihrer Verzweiflung konnten die Piloten nicht wählerisch sein und drehten nach Norden in Richtung Küste. Doch nur wenige Sekunden später prallte die Boeing auf die Wellen.
Unrühmliches Ende der Fracht-Airline
Es war 1.46 Uhr. Flug 810 war nur wenige Minuten zuvor gestartet und lag jetzt mit gebrochenem Rumpf in den Fluten des Pazifiks, etwa 4,5 Kilometer südlich der Küste vor Kalaeloa Beach. Die Wucht des Aufpralls hatte den vorderen Rumpf direkt vor den Tragflächen abgerissen. Beide Piloten waren zum Glück bei Bewusstsein und schwammen durch die Fenster des sinkenden Cockpits in Freie. Sie kamen später mit einigen Blessuren ins Krankenhaus. Anfang November, etwa vier Monate nach dem Unglück, wurden die Trümmer der 737 aus einer Tiefe von etwa 130 Metern geborgen. Auch Cockpit Voice Recorder und Flugdatenschreiber waren dabei. Schnell wurde den Unfallermittlern der US-Flugunfallbehörde NTSB klar, dass das linke Triebwerk einwandfrei lief. Die Experten waren sich rasch einig, dass der Faktor Mensch und speziell die mangelnde Koordination unter den Piloten bei diesem Unglück die Hauptrolle spielte.
Zwar waren die Transair-Piloten nicht die ersten, die das falsche Triebwerk als defekt identifizierten und deshalb abstürzten. So hatte 1989 bereits die Crew einer brandneuen 737-400 im Anflug auf East Midlands den gleichen Fehler gemacht; 47 Insassen kamen ums Leben. Dennoch: Bereits am Tag des Unfalls vor Oahu verfügte die Luftfahrtbehörde FAA ein Startverbot über die Rhoades Aviation Group infolge von anhaltenden Sicherheitsmängeln. Im Mai 2022 zog die FAA final den Stecker und widerrief die Betriebserlaubnis. Der Schritt wurde mit einer Vielzahl an Verstößen begründet. Es wurden unter anderem 33 Flüge mit Triebwerken durchgeführt, die keine der vorgeschriebenen Inspektionen durchlaufen hatten. So leitete Flug 810 das unrühmliche Ende dieser Fracht-Airline ein.
Text: Jan-Arwed Richter