Eine von elf Vickers V.814D Viscount der Lufthansa spielte an Heiligabend 1965 ein ganz besonderes Wiegenlied für AERO-INTERNATIONAL-Redakteur Wolfgang Borgmann.

Wie in meiner angehängten Biographie zu lesen, bin ich in eine Airline-Familie hineingeboren. Das Licht der Welt erblickte ich in Köln, wohin mein Vater kurz zuvor von seinem Arbeitgeber, der skandinavischen Fluglinie SAS, von Hamburg aus als Stationsleiter entsandt wurde.

Lufthansa in Köln

Luftfahrt in Köln fand damals nicht nur am Flughafen Köln/Bonn statt. Vielmehr befand sich seit 1953 auch die Unternehmenszentrale der Lufthansa am Rhein. Wie heute im Lufthansa Aviation Center am Flughafen Frankfurt/Main, wurden hier sämtliche wichtigen Entscheidungen unter dem damaligen Vorsitz des obersten Lufthanseaten, Hans M. Bongers, getroffen.

Parallel dazu war Frankfurt/Main mit der fortschreitenden Einflottung von Boeing-Jets dabei, Hamburg den Rang des größten Drehkreuzes abzulaufen. Bereits die ersten Boeing 707 der Lufthansa starteten ab 1960 vom zentral in der Bundesrepublik gelegenen Frankfurt aus in alle Welt. Eine Rolle, die Hamburg zuvor für die Langstrecken-Propliner Lockheed Super Constellation und Super Star ab 1955 inne hatte.

Ein Blick, den AERO-INTERNATIONAL-Redakteur Wolfgang Borgmann als Baby nie sah. Umgehend nach Anlassen der Triebwerke spielten diese sein Wiegenlied. Erst nach der Landung wachte er wieder auf. Bild: Lufthansa

Lufthansa-Viscount ab Köln/Bonn

Lufthansa flog in meinem Geburtsjahr mit den zuverlässigen und für Passagiere sehr bequemen Convair CV 440 Metropolitan sowie den schnittigen, viermotorigen Turboprops des Typs Vickers V.814D Viscount nach Köln/Bonn. Letztere kamen auch auf der Route nach Hamburg zum Einsatz und waren somit unsere „Luftbrücke“ in die Heimat.

Ankunft in Hamburg. Erst nach Ausschalten der Triebwerke wachte AERO-INTERNATIONAL-Redakteur Wolfgang Borgmann als Baby wieder auf. Bild: Lufthansa

Wie sich meine Mutter erinnert, flog sie mit mir ab meinem zarten Alter von drei Monaten regelmäßig mit einer Viscount von Köln/Bonn zum Familienbesuch nach Hamburg. Für Airline-Mitarbeiter kostete dies damals nur einen Bruchteil dessen, was eine alternative Reise per Pkw oder Bahn gekostet hätte.

Viscount-Wiegenlied an Heiligabend

Und so wurde ich ohne mein Zutun, bis zur Rückversetzung meines Vaters nach Hamburg, zum Viscount-Vielflieger. So auch an Weihnachten 1965, als eine Lufthansa-Viscount meine Eltern und mich zum Familienfest vom Rhein an die Elbe flog. Kaum waren die Triebwerke angelassen, verfiel ich in einen tiefen Schlaf….

Ob ich im Alter von sechs Monaten an Bord der V.814D schon vom Weihnachtsmann oder das Christkind träumte? Niemand kann dies mit Sicherheit sagen. Auf jeden Fall legte dieser und unzählige andere Flüge in frühen Jahren den Grundstein für meine Luftfahrt-Begeisterung.

Sicher ist auch, dass nur die Viscount mein Wiegenlied „sang“. Denn nur wenn ihre vier Rolls-Royce-Darts ihre Arbeit begannen, schlief ich garantiert ein – und erwachte erst wieder nach dem Abstellen der Triebwerke auf dem Vorfeld des Zielflughafens.

Schrilles Pfeifen

Die Viscount war das erste Turbopop-Passagierflugzeug der Welt. Angetrieben wurde sie von vier Rolls-Royce-Dart-Propellerturbinen. Propellerturbinen verleihen Flugzeugen generell eine hohe Geschwindigkeit und sind eine der wirtschaftlichsten Antriebsarten überhaupt.

Übergabe der ersten Vickers V.814D von Lufthansa an ihre damalige Tochtergesellschaft Condor Flugdienst. Bild: Lufthansa

Soweit die Vorteile. Wer eine Viscount noch „live“ erleben durfte, dürfte sich wahrscheinlich eher an ihren schrillen Sound erinnern. Die Motor-Luftschraubenkombi erzeugte einen extrem hohen Pfeifton, der nicht nur außerhalb des Flugzeugs, sondern auch im Inneren der Kabine zu vernehmen war. Für die einen war es Lärm, für mich anscheinend damals beruhigende Musik.

Eine Vickers Viscount der Condor Flugdienst auf einem Flug in den Süden im Jahr 1961. Bild: Lufthansa

In Deutschland sind gleich drei ehemalige Lufthansa V.814D erhalten geblieben. Zwei in Museen in Speyer und Hermeskeil und eines als ausgesprochen leckeres griechisches Restaurant in Hannover. Alle drei lohnen auf jeden Fall einen Besuch!

Erster Passagier-Turboprop

Die Viscount war das erste Verkehrsflugzeug der Welt mit einem so genannten Propeller-Turbinen-Antrieb (PTL), der umgangssprachlich als „Turboprop“ bezeichnet wird. Dabei liefert die Gasturbine zwar die erforderliche Energie, doch hat der über ein Untersetzungsgetriebe mit ihr verbundene Propeller den Hauptanteil am Vortrieb.

Mit diesem Antriebskonzept fliegen Turboprops schneller als Flugzeuge mit Kolbenmotoren, doch wirtschaftlicher als pure Jets.

Am 16. Juli 1948 ging ihr Prototyp Vickers V.630 mit 32 Plätzen an den Start. Erstkundin British European Airways (BEA) wünschte jedoch eine etwas größere Version, die als V.700 am 18. April 1953 in den Liniendienst ging.

Von der V.600 zur V.800

Die Vickers-Armstrongs Werke im britischen Weybridge ruhten sich auf ihrem Erfolg nicht aus und entwickelten parallel zur Produktion der V.700 die nochmals gestreckte V.800. Wieder war BEA Erstkundin, gefolgt von KLM, Air New Zealand und Continental Airlines in den USA.

Neben einem verlängerten Rumpf zeichnete sich die V.800 durch eine noch höhere Reisegeschwindigkeit aus, die von 515 km/h bei der Version 700 auf bis zu 640 km/h bei der V.814D gesteigert werden konnte.

Am 15. Juni 1956 bestellte die Deutsche Lufthansa zunächst neun, später nochmals zwei V.814D. Bei den Passagieren war sie vor allem wegen ihrer großen Panorama-Fenster beliebt.

Die Lufthansa Vickers V.814D Viscount D-ANAF auf dem Flughafen Hamburg. Bild: Lufthansa

Das erste Exemplar mit dem Kennzeichen D-ANUN übernahm Lufthansa am 5. Oktober 1958. 1961 vermietete Lufthansa zwei ihrer Viscount an das damalige Tochterunternehmen Condor Flugdienst. Mit diesen zwei Vickers V. 814D startete die junge Charterairline gleichzeitig ins Jetzeitalter – wenn auch mit einer Propellerturbine.

Erster Condor-(Prop)jet

Die erste, D-ANIP registrierte Viscount wurde am 2. November 1961 feierlich von Lufthansa an Condor in Frankfurt übergeben. Unmittelbar nach den Festreden hob sie zu ihrem Erstflug nach Teneriffa, mit Tankstopp in Tanger, ab.

Erst am 31. März 1971 fand mit Ausmusterung der letzten V.814D der Viscount-Einsatz bei Lufthansa sein Ende.

 

Es ist nicht bekannt, ob dieses Foto, das Technik-Mitarbeiter der Lufthansa vor einer Viscount zeigt, als Anspielung auf die chronisch technische Unzuverlässigkeit der Viscount gedacht war. Bild: Lufthansa

Vickers V.700 / V.800  Viscount

Hersteller: Vickers-Armstrongs Ltd., Weybridge, Großbritannien

Erstflug: 16.07.1948 (Prototyp V.630)

Gebaute Exemplare: 444 (alle Versionen)

Die V.814D Viscount der Lufthansa

Spannweite: 28,65 m

Länge: 26,11 m

Höhe: 8,15 m

Motoren: 4 x Rolls-Royce Dart R.Da. 7/1 Mk 525

Reisegeschwindigkeit: ca. 585 km/h

Reichweite: ca. 2800 km

Besatzung: 2 Flightdeck + 2 Kabine