Mayday: Beinahe-Kollision in Japan
Obwohl die Anzahl der Flugbewegungen weltweit steigt, sind Kollisionen in der gewerblichen Luftfahrt extrem selten. Trotzdem kam es in Japan 2001 fast zur Katastrophe, als Fluglotsen Fehler machten und Piloten die Warnungen des Kollisionswarnsystems ignorierten.
Mit fast 50 Millionen Passagieren pro Jahr hat Japan einen der größten Inlandsmärkte im Luftverkehr. Weil die Städte der 160 Millionen Einwohner starken Republik auf viele Inseln verteilt sind, stoßen die sehr schnellen Shinkansen-Züge an ihre Grenzen. So ist Japan eines der sehr wenigen Länder, in denen der Inlandsverkehr von Großraummaschinen dominiert wird.
Hohe Verkehrsdichte an diesem Tag
Das Land gilt als führend in der Einführung neuer Technologien. So beschloss die Luftfahrtbehörde bereits Ende der neunziger Jahre, das damals neue Kollisionswarnsystem TCAS (Traffic Alert and Collision Avoidance System) für Flugzeuge über 5,7 Tonnen maximale Abflugmasse verpflichtend vorzuschreiben. Denn die Verkehrsdichte nahm stetig zu. Dennoch kam es am 31. Januar 2001 zu einer extrem gefährlichen Beinahe-Kollision im japanischen Luftraum.
An jenem Mittwochnachmittag startete eine Boeing 747-400D der Japan Airlines (JAL) als Flug JL 907 vom Hauptstadtflughafen Tokio-Haneda nach Okinawa. Die beliebte Urlaubsinsel liegt etwa 600 Kilometer südlich der Hauptstadtinsel im Pazifik und ist von Tokio etwa 1600 Kilometer entfernt. Flug JL 907 war mit 411 Passagieren sehr gut gebucht.
Die Boeing 747 mit dem Kennzeichen JA8904 hatte 1992 die Werkshallen bei Boeing verlassen und war seitdem ausschließlich für JAL im Dienst. Die Version 747-400D – das D steht für Domestic – ist auf Inlandsbetrieb optimiert, hat eine besonders enge Bestuhlung und keine auf Langstrecke treibstoffsparenden Winglets an den Flügelenden. Als JL907 um 15.36 Uhr in Handel abhob, befanden sich insgesamt 427 Menschen an Bord.
Personal in der Ausbildung
Allein im Cockpit saßen auf dem Flug vier Personen. Das Kommando hatte Kapitän Makoto Watanabe (40). Rechts neben ihm hatte ein jüngerer Pilot Platz genommen, der auf diesem Flug Erfahrung im Umgang mit der Boeing 747 sammeln sollte. Hinter dem Kapitän saß der Copilot; neben ihm noch ein weiterer Pilot in Fortbildung, der später im Flug auf den Copiloten-Sitz wechseln sollte.
Der für Flug 907 zuständige Flugverkehrskontrollsektor Kanto Süd C wurde zu dieser Zeit von drei Fluglotsen überwacht. Geführt wurden alle Maschinen in diesem Sektor von Hideki Hachitani, einem 26 Jahre alten Fluglotsen, der noch in Ausbildung war. Er wurde von der erfahrenen Kollegin Yasuko Momii (31) beaufsichtigt, die ihm zur Seite saß. Sie arbeiteten mit einem Koordinator, der unter anderem für die Kommunikation zu den benachbarten Sektoren verantwortlich war. Er saß an einem benachbarten Radargerät.
Um 15.41 Uhr nahm der Jumbo Jet Kontakt zu Hachitani auf, als die Maschine gerade 11.000 Fuß (3353 Meter) durchstieg. Die zu- gewiesene Reiseflughöhe lag bei 39.000 Fuß (11.887 Meter). Nur kurz danach meldete sich aus Richtung Westen kommend ein weiterer Flug der JAL im Sektor an. Diese DC-10-40 war unter der Flugnummer JL 958 aus Busan in Südkorea zum Flughafen Narita nahe Tokio unterwegs. Unter der Verantwortung von Kapitän Tatsuyuki (45) befanden sich 237 Passagiere und 13 Crewmitglieder an Bord. Flug JL 958 befand sich auf seiner Reiseflughöhe von 37.000 Fuß.
Hohe Arbeitsbelastung des Fluglotsen
Fluglotse Hachitani bestätigte unterdessen die Steigflugfreigabe der Boeing 747 und wies Flug 907 an, direkt zum Funkfeuer Yaizu zu fliegen, in einer Kleinstadt etwa 150 Kilometer südwestlich des Flughafens Haneda gelegen. Von dort würde es in einer weiten Linkskurve in Richtung Süden aufs Meer hinausgehen, um dann etwa fünf Minuten später erneut nach rechts in Richtung Okinawa zu drehen.
Hachitani sah sich mit einer hohen Arbeitsbelastung konfrontiert. Der Luftraumsektor Kanto Süd C wurde zu dieser Zeit von etwa einem Dutzend anderer Maschinen durchquert, die alle Kurs- und Höhenfreigaben bekommen mussten. Stressfördernd kam hinzu, dass seit einigen Minuten eine Maschine der American Airlines nicht auf seine Anweisungen reagierte. Erst nach mehreren Funkrufen bestätigte der US-Pilot die Reiseflughöhe von ebenfalls 39.000 Fuß. Dies stellte aber einen Konflikt mit einem weiteren Flugzeug dar, das sich ebenfalls auf dieser Höhe befand. Somit erteilte Hachitani unverzüglich eine Sinkflugfreigabe auf 35.000 Fuß. Als der Konflikt vermeintlich geklärt schien, unterhielten sich der Lotse und seine beaufsichtigende Kollegin über die Verkehrssituation und die Verfahrensregeln. Die von Westen kommende DC-10 hatten Hachitani und Momii aus dem Blick verloren.
TCAS warnt beide Crews
Es war 15.53 Uhr, als die Boeing 747 wie vorgesehen über Yaizu ihren Linksschwenk Richtung Süden ausführte. Das Flugzeug durchquerte gerade 36.000 Fuß. Just in diesem Moment erschien auf dem Kollisionswarngerät TCAS der DC-10 ein gelber Fleck flankiert von einem kleinen Pfeil, der nach oben wies.
Das Traffic Alert and Collision Avoidance System (TCAS) wurde Mitte der neunziger Jahre eingeführt, um Kollisionen am Himmel zu verhindern. Das TCAS-System an Bord eines Flugzeugs nutzt die Signale, die sogenannte Transponder in jedem Flugzeug ausstrahlen, um ihre Ortung durch die Flugsicherung sicherzustellen. TCAS empfängt die Transpondersignale anderer Luftfahrzeuge in der Umgebung und berechnet deren Kurs, Geschwindigkeit, Flughöhe sowie die Steig- oder Sinkrate. Das System prognostiziert auf dieser Basis die Verkehrslage für die nächsten drei Minuten. Erkennt TCAS eine Kollisionsgefahr mit dem eigenen Flugzeug, wird eine Warnung ausgegeben. Diese hat anfangs die Form eines gelben Punkts im Display, zusammen mit einer akustischen Warnung „Traffic, Traffic“. Ein solcher Verkehrshinweis (Traffic Advisory, kurz TA) erfordert noch kein Handeln der Crew. Nähert sich ein anderes Flugzeug weiter an, wird in roter Farbe gewarnt. Dazu wird eine Ausweichempfehlung (Resolution Advisory, RA) ausgesprochen – entweder „climb, climb“ oder „descend, descend“. Dabei stimmen sich die TCAS-Systeme der Konfliktflugzeuge per Funk automatisch ab, sodass eines der Flugzeuge in den Sinkflug kommandiert wird, das andere in den Steigflug. Deshalb gilt für Piloten, eine Resolution Advisory immer und sofort zu befolgen. Doch das war in den Anfangszeiten von TCAS noch keine so eiserne Regel wie heute.
Crew ignoriert Kollisonswarnung
Auch im Kontrollzentrum Tokio wurde der potenzielle Konflikt der beiden JAL-Flüge angezeigt. Hachitani erkannte, dass er die DC-10 aus den Augen verloren hatte, die nun nur noch eine Minute von einer drohenden Kollision mit dem Jumbo Jet des Flugs JL 907 entfernt war. Eile war geboten. Doch statt die im Reiseflug auf 37.000 Fuß befindliche DC-10 sinken zu lassen, wies er den gerade durch 36.900 Fuß steigenden Jumbo Jet an, in den Sinkflug überzugehen und eine Höhe von 35.000 Fuß einzunehmen. Aus dem Steigflug in einen Höhenabbau überzugehen, erfordert allerdings deutlich mehr Zeit, als aus einem stabilen Reiseflug Höhe abzubauen. Was Hachitani nicht wusste: Kapitän Tatsuyuki an Bord der DC-10 hatte inzwischen von seinem TCAS eine RA-Ausweichempfehlung erhalten und folgte dieser wie vorgesehen: Er leitete einen Sinkflug ein. Die Kondensstreifen der von links kommenden Boeing waren auf seiner linken Seite bereits gut erkennbar.
Im Cockpit der 747 hatte sich die Crew allerdings entschieden, den Anweisungen des Fluglotsen zu folgen statt auf die Computerstimme des TCAS zu hören, das permanent „climb, climb“ plärrte. Bei 37.200 Fuß erreichte Flug 907 den höchsten Punkt und begann nun mit dem Sinkflug. Der Autopilot wurde abgeschaltet und das Flugzeug von Hand in den Sinkflug gesteuert. Hachitani wies JAL 958 an, nach rechts auf 130 Grad zu drehen, um den Kreuzungspunkt beider Flugzeuge ein wenig zu verzögern.
Widersprüchliche Kommandos von Avionik und Lotse
Doch die DC-10 antwortete nicht und behielt Kurs sowie Sinkrate bei. Zu seinem Entsetzen sah der Lotse, dass die DC-10 nun ebenfalls an Höhe verlor. Beide Flugzeuge sanken aufeinander zu. Eins folgte dem TCAS, das andere den Lotsenkommandos.
„Sinkflug beschleunigen“ kam jetzt vom TCAS der DC-10, deren Sinkrate auf 2500 Fuß pro Minute erhöht wurde. Um nicht zu schnell zu werden, fuhr Kapitän Tatsuyuki die Luftbremsen aus und ging zur Handsteuerung über.
Im Kontrollraum intervenierte nun die Vorgesetzte Momii und wies Flug JL 957 an, einen Sinkflug einzuleiten. Doch ein Flug JL 957 existierte gar nicht! Niemand antwortete. Momii besann sich anders und wies die Boeing 747 an, den Sinkflug augenblicklich abzubrechen und zügig auf 39 000 Fuß zu steigen. Erneut kam keine Antwort, da nun die Jumbo-Piloten die immer größer werdende Silhouette der DC-10 fixierten, die exakt in ihrer Höhe auf sie zu schoß. Nur wenige Sekunden blieben, bevor sich beide Flugwege kreuzen würden. In einem verzweifelten Versuch, die Kollision zu vermeiden, drückte der Kapitän in höchster Not seine Steuersäule abrupt nach vorn.
Kollision um Haaresbreite verhindert
Es war 15.55 Uhr und 11 Sekunden, als sich beide Jets beinahe berührten. Die 747 flog laut Schätzungen zwischen 20 und 60 Metern unter und zirka 100 Meter hinter der DC-10 hindurch. In Luftfahrtdimensionen
ist das kaum eine Haaresbreite, die über Tod und Leben entschied.
In der Passagierkabine des Jumbo Jets hatte die Crew bereits begonnen, die ersten Getränke zu servieren; viele Fluggäste hatten sich abgeschnallt. Als urplötzlich der Sturzflug eingeleitet wurde, schleuderten Gegenstände und nicht angeschnallte Personen mit Wucht an die Kabinendecke. Einer der Getränkewagen wurde so heftig nach oben gerissen, dass er die Verkleidung durchschlug. 100 Reisende und Crewmitglieder wurden durch die Beschleunigung an die Decke geworfen. Es gab zahlreiche Knochenbrüche und blaue Flecken. Außer der Cockpitcrew konnte noch niemand an Bord ahnen, warum das Flugzeug so plötzlich Höhe verlor. Nachdem die Gefahr vorbei war, nahmen beide Flugzeuge wieder ihre ursprünglich zugewiesenen Flughöhen ein. Da an Bord der DC-10 niemand verletzt wurde, konnte JL 958 den Weiterflug mit der Landung in Tokio-Narita regulär beenden. Die Piloten der Boeing 747 kehrten dagegen aufgrund der großen Anzahl verletzter Passagiere nach Tokio-Haneda zurück, wo sie um 16.44 Uhr sicher landete.
Die Fluglotsen Hachitani und Momii mussten sich vielen Fragen stellen lassen. Die Staatsanwaltschaft klagte beide an, grob fahrlässig gehandelt zu haben. Ein Strafmaß von bis zu 15 Jahren Haft stand im Raum. 2006 wurden beide von einem Bezirksgericht von allen Anschuldigungen freigesprochen. Diese Entscheidung wurde später von der Staatsanwaltschaft angefochten. Es kam erneut zu einem Prozess auf Bundesebene, in dem Hachitani zu 12, Momii zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wurden.
Der beschädigte Jumbo Jet wurde repariert und wieder in Dienst gestellt. Ironie des Schicksals: Hätte der Lotse überhaupt nicht eingegriffen, hätte der Jumbo Jet ohne weiteren Konflikt die DC-10 mit etwa 1000 Fuß Höhendifferenz passiert. Seine Entscheidung einzugreifen, führte zu dieser Beinahe-Katastrophe. Wäre dieser Vorfall bei Dunkelheit oder in Wolken passiert, wäre die Annäherung am Himmel über Japan mit hoher Wahrscheinlichkeit katastrophal verlaufen. Aus diesem Vorfall und dem Unfall von Überlingen (siehe Kasten Seite
76) resultiert die Erkenntnis, dass die Anweisungen der Kollisionswarnung TCAS alle Vorgaben der Flugsicherung übertrumpft. Und auch der Hinweis an Passagiere, stets angeschnallt zu bleiben, hat seine Wurzeln in Vorfällen wie diesem.
Text: Jan-Arwed Richter