Wie konnte die Independent Air Boeing 707 abstürzen?
Veraltete Navigationsdaten und Ungenauigkeiten in der Kommunikation mit dem Fluglotsen führen zum Absturz einer Boeing 707 der Independent Air im Februar 1989. Eine Unfallanalyse.
Seit 1966 setzte der Travel Club „Skylarks“ (zu Deutsch: Lerchen) aus Atlanta im US-Bundesstaat Georgia zwei alte Propellerflugzeuge der Marke Douglas DC-7 ein. Doch die Verantwortlichen wollten ihren Mitgliedern mehr bieten und entwickelten exklusive Charterflüge aus den USA in Richtung Karibik.
Angebot wird schnell zu klein: TWA muss aufrüsten
Zwei betagte vierstrahlige Boeing 720B ersetzten dafür die DC-7. Doch die Nachfrage überstieg schnell das Angebot, und die als Independent Air fliegende Fluggesellschaft wurde größer. Bis Mitte der achtziger Jahre kamen drei Boeing 707-300 aus Beständen der TWA hinzu. Später wurde noch eine Boeing 727- 100 eingeflottet. Mitte der achtziger Jahre zeigten sich die Spätfolgen dieser Second-Hand-Einkaufspolitik.
Immer mehr Länder verhängten Lärmrestriktionen für so laute Flugzeuge wie die Boeing 707. Die Lösung für kleine Carrier wie Independent Air hieß: Nachrüstung mit sogenannten „Hush Kits“. Die Umrüstung beinhaltete eine Ummantelung des Lufteinlasses der JT3D-Triebwerke, sodass die vom Fan angesaugte Luft besser um die Turbinen geleitet wurde. Das senkte die Lärmemission auf die Grenzwerte der US-Lärmauflage CFR Part 36, Abschnitt 3. Diese behördliche Kennziffer „Stage 3“ diente fortan 707-Betreibern als Nachweis der Lärmtauglichkeit – auch bei Independent Air.
Tankstopp auf den Azoren
Im Winterhalbjahr 1988/1989 konnte die Airline so im Karibikgeschäft mitmischen. Charterflüge von den USA aus sowie aus Europa standen im Angebot. Darunter war auch der Flug IDN 1851 von Mailand in die Dominikanische Republik, damals ein beliebtes Winter-Langstreckenziel für sonnenhungrige Europäer. Am Dienstag, dem 7. Februar 1989, landete die Crew nach einem 10,5-stündigen Flug aus Jamaika in Norditalien.
Reise nach Punta Cana soll verspätet starten
Eigentlich sollte Malpensa nahe Mailand Zielflughafen sein. Nebel mit Sichtweiten unter 100 Metern über dem Flugfeld machten die Landung für die Boeing 707 jedoch unmöglich. Die Crew wich nach Genua aus. Kapitän, Copilot und Flugingenieur wurden anschließend per Bus zu ihrem Hotel in Bergamo gefahren, um dort die nächsten anderthalb Tage für den Rückflug auszuruhen.
Am Morgen des 9. Februar verließ die Crew das Hotel in Bergamo in Richtung Flughafen. Zuvor wurde bekannt, dass die
Rückfahrt nach Genua zu ihrer dort „gestrandeten“ Boeing entfiel, weil sich die Sicht in Bergamo entgegen der Erwartungen gebessert hatte. So konnte ihre Boeing 707 früh-morgens nach Bergamo überführt werden. Die 137 Passagiere waren mitsamt ihren Koffern zu der Zeit aber noch in mehreren in Malpensa gestarteten Bussen unterwegs, wo der Flug ursprünglich abheben sollte. Der neue Abflugsort sorgte für eine große Verspätung, bis die Urlaubsreise ins tropische Punta Cana in der Dominikanischen Republik schließlich angetreten werden konnte.
Nonstop-Flug nicht möglich, Flugpiloten unerfahren
Wegen starken Gegenwinds konnte die Boeing die 7650 Kilometer bis nach Punta Cana nicht nonstop fliegen. Somit beschloss die Crew, einen Tankstopp auf Santa Maria einzulegen, der östlichsten der Azoreninseln. Kommandant an Bord war der 11 lahre alte Leon Daugherty. 7766 Flugstunden hatte er an Flugertahrung gesammelt. davon allerdings nur 766 auf der Boeing 707.
Sein Kollege auf dem rechten Sitz war Samue „Sammv“ Adcock (26), der 2764 Flugstunden vorweisen konnte, die meisten jedoch auf dem kleineren Muster 727. Im Cockpit einer 707 hatte Adcock bisher nur 64 Stunden gearbeitet, auch war er noch nie als Pilot in Europa gewesen. Die meiste Erfahrung mit der 707 besaß mit 1056 Flugstunden Flugingenieur Jorge Gonzales (34).
Eine der letzten Boeing 707
Die zum Einsatz kommende Boeing war 21 Jahre alt. Im März 1968 in Dienst gestellt, flog die Boeing zunächst für die US-Fluglinie TWA, bis sie 1982 von Skvlarks gekauft wurde. Mitte der achtziger Jahre erfolgte ihre Umrüstung mit Hush Kits. Independent Air war eine der letzten Passagierairlines Nordamerikas, die dieses Flugzeugmuster noch im Einsatz hatte. Der Vierstrahler war 1989 aus beinahe allen Flotten verschwunden.
Falsche Flugdaten als Grundlage für Absturz der Independent Air
Die letzten Vorbereitungen vor dem Abflug liefen aut Hochtouren. Noch älter als die Boeing waren die Luftfahrtkarten,
die den Piloten zur Verfügung standen. Ihre Luftfahrtunterlagen für Portugal (die Azoren gehören zu diesem Staat) stammten aus dem Jahr 1962. Mehrfache handschriftliche Änderungen fanden sich darin, von denen keine die aktuell korrekten Angaben enthielten.
So wurden dem Flughafen Santa Maria im Flugplan Koordinaten zugewiesen. die nicht mit der tatsachlichen Lage des Flughafens übereinstimmten. Die Ungenauigkeiten führten dazu. dass die Crew aufgrund der veralteten Karteninformationen das UKW-Drehfunkfeuer SMA VOR anpeilte, dass unmittelbar südlich des Flughafens lag
statt wie vorgesehen das ungerichtete Funkfeuer SMA nördlich des Flughafens als Fixpunkt zu nehmen. Ein verhängnisvoller Fehler.
Pünktlicher Start und ereignisloser Flug über den Atlantik
Flug 1851 verließ die Parkposition und rollte zur Startbahn. Exakt um 11.04 Uhr heulten die vier T2D-Triebwerke auf. Vier Stunden und zehn Minuten betrug die kalkulierte Flugzeit. Der große Jet stieg problemlos auf die Reiseflughöhe von 25 000 Fuß und flog über Frankreich, Spanien und Portugal, passierte die Atlantikküste und hatte fortan nur noch das Blau der Ozeanwellen unter sich.
Dieser Flugabschnitt verlief relativ ereignislos. abgesehen von den technischen Schwierigkeiten, die die Crew hatte, um Funkkontakt über Kurzwelle mit der Luftraumkontrolle auf den Azoren aufzunehmen.
Erste Probleme bei der Boeing 707
Um 12.46 Uhr wechselten Daughertv und seine Crew auf die Frequenz von Santa Marie Aeronautical Station, Coollot Adcock wickelte den Funkverkehr ab. Diensthabender Lotse war ein junger Controller, der noch in der Ausbildung war und von einem älteren Kollegen überwacht wurde. Nach dem Überflug des Kreuzungspunkts 28 Grad Nördlicher Breite und 20 Grad Westlicher Lange setzte die Crew ihren Kurs auf den Punkt ECHO fort.
Er liegt 122 Kilometer nordöstlich der Insel und dient als Abstiegspunkt, bei dem man den Sinkflug auf Santa Maria einleitet. Im Lauf der nächsten Minuten kam es immer wieder zu Abweichungen von den internationalen Standards für Funk-Phraseologie, ebenso zu Verständigungsschwierigkeiten. an denen sowohl die Crew als auch der Fluglotse Anteil hatten.
Fehlendes Wissen über das Flugziel
Anweisungen wurden verstummelt und tells inkorrekt wiederholt. Der Lotse und sein Vorgesetzter achteten nicht auf das korrekte Wiederholen von Anweisungen. Auch scheint es so, dass sich die Piloten nicht im Klaren über die Lage des Endanflugpunkts waren, auf den sie mit mehr als 200 Knoten zuflogen. Noch nie war einer von ihnen auf Santa Maria gelandet.
Der Flughafen Santa Maria verfügte 1980 noch nicht über Radar. Die Lotsen waren allein auf die präzise Einhaltung der
getunkten Positionsangaben der Piloten angewiesen. Flugingenieur Gonzales forderte einen aktuellen Wetterbericht an. Demnach war die Piste 19 in Betrieb. auf die man von Norden her Richtung Landebahn einschwenkt.
Um 12.44 Uhr meldete sich der Fluglotse mit dem Wetterbericht:
ATC: „Wind 260 … 14 Knoten, maximum 24 Knoten, Sicht über zehn Kilometer, Wolken ein Achtel auf 1200 Fuß, sechs Achtel auf 3000 Fuß … Temperatur 17 (Grad), Luftdruck 1018 (Hektopascal).“
Typische Wetterverhältnisse auf den Azoren
Typisch für die Azoren war der Wind, der aus Westen kam und bis 24 Knoten auffrischte, dessen Seitenwindkomponente aber innerhalb der Toleranzen für die Boeing 707 war. Kapitän Daugherty erspähte ein paar Regengüsse links unter sich über dem Meer, die vorausliegende Insel war durch die Wolken- decke nur gelegentlich erkennbar.
Die Flughöhe verringerte sich weiter, und die Passagiere wurden aufgefordert, wieder ihre Sitzplätze einzunehmen und sich anzuschnallen. Es war 13.56 Uhr, als Flug 1851 auf 21 900 Fuß sank und es zu folgendem Dialog kam:
ATC: „Independent Air 1851, Sie sind freigegeben auf 3000 Fuß mit QNH 1027 und die Bahn wird die 19 sein. COP: „Wir sind freigegeben auf 2000 Fuß und … 1027.“
ATC: „Erwarten Sie den ILS-Anflug Bahn 19, melden Sie, wenn Sie 3000 erreicht haben.“
Die beiden letzten Funksprüche wurden simultan abgegeben und überlagerten sich, was zur Folge hatte, dass der Lotse nichts von der fehlerhaft zurückgelesenen Flughöhe mitbekam. Kapitän Daugherty korrigierte seinen Kollegen mitten im Satz mit den Worten: „Mach’ne Drei draus“. Offenbar erkannte er die fehlerhaft zurückgelesene Freigabe.
Doch Copilot Adcock haderte mit etwas anderem: „Sagte er tatsächlich 1027 in Sachen Luftdruck?“ So blieb die Höheneinstellung im Autopilot unangetastet. Zeitgleich wollte im Tower der überwachende Fluglotse seinen jungen
Kollegen über den falschen Luftdruckwert informieren, jedoch lenkte ihn just in dieser Sekunde ein Telefongespräch ab, und er verlor den Gedanken aus dem Kopf.
Fehlerhafte Werte werden übernommen: Boeing 707 vor Absturz
Die korrekte Luftdruckeinstellung ist wichtiger Verfahrensbestandteil vor jeder Landung. Nur mit der Einstellung des aktuellen Luftdrucks zeigt der Höhenmesser korrekte Werte. Wird der Luftdruckwert zu hoch eingestellt, ist die tatsächliche Flughöhe geringer als die angezeigte. Jedes Hektopascal Abweichung verändert die angezeigte Höhe
gleich um etliche Meter.
Die ungewöhnlich große Diskrepanz zwischen der Luftdruckangabe aus dem Wetterbericht und der in der Freigabe gemachten fiel den Piloten zwar auf, jedoch baten sie nicht um eine Bestätigung und übernahmen den fehlerhaft übermittelten Wert. Ursache hierfür könnte auch die Anwesenheit einer der Flugbegleiterinnen im Cockpit gewesen
sein, die eine Unterhaltung mit den Piloten begonnen hatte. So blieben sowohl der unkorrekte Luftdruckwert als auch die im Autopilot programmierte, um etwa 300 Meter zu geringe Flughöhe bestehen.
„Felsen“: Es wird ernst!
In 2500 Fuß überflog der Urlauberjet im Sinkflug die Küste der Insel Santa Maria. „Felsen“, sagte eine Stimme im Cockpit, als die Wolken kurz die Sicht auf die schroffe Küste freigaben. Die erhoffte gute Sicht ließ weiter auf sich warten. In den Wolken zerrten Turbulenzen an der Maschine, die in der Intensität zunahmen. 2000 Fuß waren erreicht. Die Boeing schlingerte.
CPT: „Ich kann die Maschine gerade weder hoch- noch untenhalten“
„Pull up, Pull up“
Keine zehn Sekunden später schlug das automatische Bodenannäherungs-Warngerät GPWS an: „ ,Pull up, pull up!“. Die Standardreaktion auf diese Warnung sollte eigentlich sein, sofort einen Steigflug einzuleiten. Doch nichts geschah. Daugherty und Adcock hatten in den vergangenen Jahren zu oft erlebt, wie das GPWS ohne Not vor zu geringer Flughöhe gewarnt hatte. So waren sie unbesorgt und glaubten, dass es auch dieses Mal ein Fehlalarm sei. Ein tödlicher Irrtum.
Boeing 707 der Independent Air stürzt ab
Um 14.08 Uhr prallte die Boeing 707 der Independent Air mit etwa 210 Knoten in einer Höhe von 1795 Fuß (547 Metern) knapp unterhalb der Bergspitze des Pico Alto, der höchsten Erhebung der Insel, auf. Keiner der 144 Menschen an Bord von Flug IDN 1851 hatte eine Überlebenschance. Nur das hochaufragende Leitwerk sowie ein Teil eines Triebwerks ließen den Schluss zu, dass es sich bei dem Trümmerfeld um ein Flugzeug gehandelt haben muss. Das zu diesem Zeitpunkt schwerste Flugzeugunglück in der Geschichte Portugals hatte sich ereignet.
Die portugiesische Unfalluntersuchung identifizierte eine hohe Zahl an menschlichen Fehlern, die in ihrer Summe zur Tragödie beigetragen hatten. Ein Blick auf die Anflugkarten hätte der Crew signalisieren müssen, dass die minimale Anflughöhe über der Insel 3000 Fuß beträgt. Eine Freigabe auf 2000 Fuß hätte die Crew sofort hinterfragen und ablehnen müssen. Dass 2000 Fuß keine sichere Höhe waren, hätten auch aktuelle Karten gezeigt: Der höchste Punkt der Insel war nicht mehr der Pico Alto mit 1936 Fuß (590 Meter), sondern der darauf befindliche TV-Antennenmast, dessen Spitze sich auf 2025 Fuß (617 Meter) befand.
Veraltete Cockpit-Unterlagen
In den Cockpit-Unterlagen war er nicht zu finden. Äußerst tragisch war auch die Rolle des Fluglotsen, der irrtümlich den zu hohen Luftdruckwert an die Crew weitergab. Hätten die Piloten ihre Höhenmesser mit den vorherigen Luftdruckeinstellungen eingestellt gelassen, wären zwischen der Felskante des Pico Alto und der Boeing noch 60 Meter Luft gewesen. Als fatal entpuppte sich auch der anfängliche Fehlkurs zum VOR Santa Maria, der den anfliegenden Jet mitten über die bergige Insel statt über die flache Nordküste führte.
Zudem erwies sich die Sorglosigkeit, die die Crew gegenüber der Minimalhöhe von 3000 Fuß hatte, als fatal. Zumindest einem der Piloten war dieses lebenswichtige Minimum bekannt, jedoch pochte niemand auf dessen Einhaltung. Außerdem wurde bekannt, dass keiner der Piloten ein Training von Notmanövern nach einem GPWS-Alarm bekommen hatte – so, wie es die US Aufsichtsbehörde FAA seit 1987 verlangte. Mit dem Crash endete die Ära der Boeing 707 als Passagierflugzeug.
Text: Jan-Arwed Richter