Herausforderer mit Ambitionen: Werksbesuch bei Embraer
Nach der geplatzten Fusion des Regionaljetbereichs mit Boeing und den dramatischen Auswirkungen der Corona-Krise setzt der brasilianische Flugzeughersteller wieder auf Wachstum.
Es hätte alles so schön sein können. Das Brautpaar war bereit, vor den Altar zu treten, doch quasi in letzter Sekunde vor der finalen Vertragsunterzeichnung machte Boeing am 24. April 2020 einen Rückzieher. Es war das formale Ende des vor allem in Brasilien kontrovers diskutierten Joint-Ventures mit Embraer „Boeing Brasil-Commercial“.
Weiterentwicklung bei Embraer geht trotzdem voran
Wie der europäische Flugzeugbauer Airbus, der sich im Oktober 2017 die Mehrheit an dem kanadischen Bombardier-Regionaljetprogramm CSeries (heute Airbus A220) sicherte, wollte Boeing das Produktportfolio mit Embraers E-Jet-Familie nach unten abrunden. Ein ähnliches Konstrukt war in Form von „Boeing Embraer-Defense“ für den Bau und die Vermarktung des Militärtransporters C-390 angedacht. Und auf noch ein weiteres „Pfund“ hatten es die Amerikaner abgesehen: das hochmotivierte und exzellent ausgebildete Techniker- und Ingenieurkorps der Brasilianer.
Es hat mit der drastisch weiterentwickelten E-2-Version des E-Jet-Regionaljets dessen erfolgreiche nächste Generation an den Start gebracht. Und sorgt zudem mit innovativen Zukunftsprojekten in Form des eVTOL-Konzepts EVE und der klimaneutralen Energia-Turboprop-Flugzeugfamilie aktuell für Aufsehen.
Diversifiziert: David gegen Goliath?
Lässt man einmal die größere, schwerere und zudem noch nicht zugelassene Boeing 737-7 am unteren Rand des Boeing-Portfolios außer acht, dann treten mit A220 und E-Jet aktuell zwei „echte“ Regionaljet-Familien gegeneinander an. Bis vor etwas mehr als einem Jahr waren es noch drei – doch bedeutete die Invasion der Ukraine und die darauf folgenden westlichen Sanktionen gegen Russland das de-facto-Ende für den mit vielen westlichen Komponenten ausgerüsteten russischen Suchoj Superjet SSJ 100.
Airbus und Embraer miteinander zu vergleichen, schreit nach dem viel zitierten Vergleich David gegen Goliath. Während die europäischen Flugzeugbauer 2022 einen Umsatz in Höhe von 58,8 Milliarden Euro verbuchten, waren es bei den Brasilianern nur 4,54 Milliarden US-Dollar, was aktuell rund 4,2 Milliarden Euro entspricht. Für das laufende Geschäftsjahr 2023 rechnet Embraer mit einem Umsatz in der Spanne zwischen 5,2 bis 5,7 Milliarden US-Dollar.
Entwicklung von Embraer findet weltweit statt
Die Regionaljets und das eVTOL-Zukunftsprojekt EVE werden am Standort São José dos Campos entwickelt und produziert, 20 Flugminuten von São Paulo entfernt. Dazu verfügt der Konzern über zahlreiche weitere Werke in Brasilien und den USA. Sie sind der Fertigung von Militärprojekten sowie Businessjets vorbehalten. Darunter ist beispielsweise das Werk in Melbourne im US-amerikanischen Bundesstaat Florida, in dem die Embarer-Businessjet-Modelle Phenom und Praetor endmontiert werden (siehe Seite 50).
Global sind mehr als 18000 Mitarbeiter für den Embraer-Konzern tätig, dessen Aktivitäten in die Geschäftsfelder Commercial Aviation, Executive Aviation, Defense & Security sowie Services & Support aufgeteilt sind. EVE hingegen ist als eigenständiges Unternehmen aus Embraer ausgegliedert und an der New Yorker Börse aktiennotiert.
Vier Geschäftsfelder verhelfen zum Erfolg
Embraer überwand den Boeing-Schock und die Corona-Krise aus eigener Kraft und ist nach einem beachtenswerten Turnaround heute ein breit aufgestellter, erfolgreicher Luft- und Raumfahrtkonzern mit großen Ambitionen. So wurden im vergangenen Jahr laut Firmenangaben 12,7 Prozent mehr Flugzeuge ausgeliefert als im Vorjahr – ungeachtet der anhaltenden Verzögerungen in den Lieferketten. Sämtliche Geschäftseinheiten haben, so Embaer, positive, um Sondereffekte (Adjusted EBIT) bereinigte Zahlen abgeliefert und lagen damit über den eigenen Erwartungen des Managements.
Neben einem positiven Cashflow verzeichnete Embraer 2022 ein Auftragspolster in Höhe von 17,5 Milliarden US-Dollar – 500 Millionen US-Dollar mehr im Vergleich zum Vorjahr. Dies gelang, obgleich in allen drei Pandemiejahren von 2020 bis 2022 massiv in die Zukunft investiert wurde. So lagen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung mit 151, 207 und 176 Millionen US-Dollar für jedes der drei Jahre stets auf einem hohen Niveau. Im laufenden Jahr rechnet der Hersteller damit, rund 65 bis 70 E-Jets und 120 bis 130 Businessjets auszuliefern und über einen Free Cash Flow von mindestens 150 Millionen US-Dollar zu verfügen – dies ohne EVE.
eVTOL-Unternehmen für Embraer enorm wichtig
Alleine für dieses eVTOL-Unternehmen, das als EVE Holding Inc. an der Börse notiert ist, rechnet Embraer schon in sieben Jahren mit einem Jahresumsatz von 4,5 Milliarden US-Dollar. Das entspricht dem gesamten Umsatz von Embraer im vergangenen Geschäftsjahr. „EVE ist ein neues Embraer“, postuliert Konzern-CEO Francisco Gomez Neto im Gespräch mit AERO INTERNATIONAL.
Er führt den extrem schlank, nach dem „Lean“-Prinzip organisierten Konzern gemeinsam mit CFO Antonio Carlos Garcia von São Paulo aus. Die optimistische, EVE betreffende Einschätzung mag auch damit zusammenhängen, dass man aus der Konzernzentrale auf den Helikopterverkehr schauen kann.
Hubschrauber als Zukunftstechnologie
Wer es sich leisten kann, nimmt hier den Hubschrauber. Selbst bei einem kurzen Sprung von Hausdach zu Hausdach, lässt sich so die Fahrt, während der Überfälle möglich sind, über die unsicheren Straßen der Stadt vermeiden. Hier böte sich in der Tat ein perfektes Einsatzgebiet für das elektrische EVE. Für Neto und Garcia, die beide auf eine lange berufliche Vergangenheit in Führungspositionen bei deutschen Konzernen zurückblicken können, und die auch perfekt die deutsche Sprache beherrschen, ist „Lean“ keine leere Worthülse.
Scope-Klausel für Embraer problematisch
So betont der Konzerndirektor, dass die Neueinstellung eines jeden einzelnen Arbeitnehmers, der nicht in der Produktion benötigt wird, vor ihm begründet werden muss – und von ihm persönlich genehmigt wird. Regionaljets Kernprodukt im Geschäftsbereich Commercial Aviation sind die beiden aus der Ur-Version weiter entwickelten Modelle E190-E2 und E195-E2. Im Jahr 2013 auf dem Luftfahrtsalon in Le Bourget erstmals angekündigt, hat die neue Generation schrittweise die ursprüngliche E1-Familie abgelöst. Mit einer Ausnahme: Aufgrund der sogenannten „Scope Clause“ produziert Embraer nach wie vor die E175-E1, insbesondere für US-Airlines.
Diese Klausel ist eine zwischen Pilotengewerkschaften und Airlines ausgehandelte Obergrenze. Sie legt die über die maximale Passagierzahl und das maximale Startgewicht fest. Außerdem regelt sie, welches Muster als Regionaljet oder als Teil der Hauptflotte einer Airline zählt. Üblicherweise liegt diese Grenze bei 76 Sitzplätzen und einem maximalen Abfluggewicht von 39010 Kilogramm. Genau daran orientiert sich die E175-E1-Auslegung mit 76 Sitzen in einer Zweiklassenversion und einem maximalen Startgewicht von 38790 Kilogramm.
Embraer E175-E2 findet keine Abnehmer
Die als Ablösung gedachte E175-E2 liegt jedoch mit 44,6 Tonnen weit über diesem Wert – und findet daher bei den US-Airlines keine Kunden. Als Konsequenz daraus hat Embraer die Zulassung der kleinsten E2-Version vorläufig gestoppt. Eine anfängliche Order über 100 E175-E2 der US-Regionalairline Skywest musste wieder aus den Auftragsbüchern gestrichen werden. Es kam hier zu keiner Einigung über eine angehobene „Scope Clause“ gekommen war. Diese Spezialisierung auf den US-Markt drückt sich auch in Zahlen aus. Hat die E175-E1 bei den weltweiten Bestellungen in der Klasse zwischen 70 und 90 Sitzen seit 2013 einen Anteil von 63 Prozent, sind es in den USA mit über 600 Maschinen ganze 86 Prozent. Dennoch gehört die Zukunft den wesentlich wirtschaftlicheren E2-Modellen.
Von den 60 im vergangenen Jahr verkauften E-Jets entfielen 48 auf die E195-E2-Version. Auch wenn sich beide E-Jet-Generationen zum Verwechseln ähnlich sehen, sind die E2-Modelle in vielen Bereichen weiter entwickelt worden. Das fängt mit einer neuen Avionik-Generation im Cockpit und einem Fly-by-wire-System der vierten Generation an. Auch ein völlig neu konstruierter Flügel und ein neues Höhenleitwerk zählen zu den Highlights. Letzteres ist so klein dimensioniert, dass das Flugzeug zur Treibstoffersparnis künstlich instabil konstruiert wurde und ausschließlich per Fly-by-wire zu fliegen ist.
Embraer E195-E2 mit deutlichen Vorteilen gegenüber A220
All diese konstruktiven Maßnahmen und nicht zuletzt die PW1000G-Getriebefans von Pratt&Whitney führen gegenüber der E1-Generation zu einem stark reduzierten Treibstoffverbrauch. Ungeachtet der zahlreichen Unterschiede soll die Umschulung der Cockpitbesatzungen von einer E1-Version zur E2 nur 2,5 Tage dauern.
Die E195-E2 verbraucht weniger als die A220, erkauft sich diesen Vorteil jedoch durch eine geringere Nutzlast und Reichweite. Auch ist der Lärmpegel in der Kabine niedriger als bei der A220. Insbesondere da die E2 leichter ist und die Triebwerke weniger Schub produzieren müssen. Wie die meisten Kunden der Pratt&Whitney-Getriebefans bleibt auch Embraer nicht von Problemen verschont. So warten im Herstellerwerk fertig montierte, jedoch motorlose Jets auf ihre Antriebe. Auch anhaltende Triebwerksprobleme bei bereits ausgelieferten Flugzeugen machen den Kunden zu schaffen.
Ersatzbedarf bis 2027
Embraer sieht in den kommenden Jahren einen großen Ersatzbedarf für ältere Airbus A319, Boeing 737-700 und Embraer E1. Allein im Zeitraum 2024 bis 2027 seinen 415 E1 für eine Ablösung durch moderne Flugzeugtypen überfällig. In Europa sieht der brasilianischen Hersteller vor allem die Lufthansa-Gruppe und die polnischen LOT als heiße Kandidatinnen für neue Maschinen. Auch wenn man sich der starken Konkurrenz durch die A220 bewusst ist, hoffen man auf ein großes Stück des Kuchens.
Bei LOT handelt es sich dabei um 19 E170 und E175 sowie 23 E190 und E195. Das älteste Exemplar davon ist Baujahr 2004. Im Fall der Lufthansa-Gruppe hat Embraer die Bombardier CRJ-900 und E190-Jets der CityLine im Visier. Aber auch die E190 und E195 der Air Dolomiti sowie die E195 der Austrian Airlines sind ins Blickfeld gelangt. Letztere sind mit sechs und sieben Jahren noch relativ jung. Bei einer aktuell nur zu rund einem Drittel ausgelasteten Endmontagelinie in São José dos Campos könnte Embraer sicherlich durch relativ kurzfristige Liefertermine punkten. Dafür müssen aber die aktuell stark überstrapazierten Lieferketten mitspielen. Die Brasilianer sehen sich durch das bisher Erreichte in ihrer Hoffnung bestärkt für einen Zuschlag. Schließlich liegt ihr Marktanteil in der Regionalflugzeug-Klasse mit bis zu 150 Sitzen bei 29 Prozent.
Soziales Engagement
Embraer fördert nicht nur gezielt Mitarbeiterinnen, wie im nachfolgenden Interview mit Janaina Nascimento zu lesen. Sie beginnen soziales Engagement bereits bei der Schulbildung junger Menschen. So unterhält Embraer zwei Highschools mit bislang zusammen 4400 Absolventen. Diese sozial benachteiligten Jugendlichen bekommen gezielt eine Chance für ihr Berufsleben.
Die gesamten Ausbildungskosten gehen auf das Konto des Flugzeugherstellers. Zudem werden zu 100 Prozent Stipendien für darauf aufbauende Studiengänge übernomnen, was rund 80 Prozent der Schüler in Anspruch nehmen. Dabei ist es gleichgültig, ob die Absolventen im Anschluss daran eine Anstellung bei Embraer planen. Denn, Sie können auch ganz ihren individuellen Talenten folgen. Eine Embraer-eigene Ingenieurschule rundet das Angebot ab.
Autor: Wolfgang Borgmann