Tamarack: So funktioniert der Trick mit dem Knick
Dank Winglets und einer kleinen Steuerfläche namens Tamarack Active Camber Surface fliegen Citation CJs höher und weiter.
Die Entwickler arbeiten an der Zulassung für größere Muster .
Kein modernes Verkehrsflugzeug mehr, das nicht mit hochgebogenen Flügelspitzen durch die Weltgeschichte fliegt. Gewöhnliche Winglets bringen irgendwo zwischen drei und fünf Prozent Treibstoffersparnis. Das ist eine ganze Menge. Tamarack Aerospace hat eine Active Winglets genannte Technologie entwickelt, die diesen Wert auf bis zu 30 Prozent schraubt. Eigner von Cessna Citation CJs profitieren bereits davon, aber Tamarack schielt bereits auf größere Flugzeuge und damit Märkte mit mehr Potenzial.
Tamarack sitzt im amerikanischen Sandpoint in Idaho
Tamarack ist ein Beispiel, dass gute Ideen überall gedeihen können. Das Unternehmen hat seinen Sitz weit ab von allen Zentren der Luftfahrtindustrie im amerikanischen Sandpoint. Das 8000-Einwohner-Städtchen liegt im Idaho Panhandle, jenem ein paar Dutzend Kilometer breiten Streifen Land, mit dem sich Idaho zwischen die Bundesstaaten Washington und Montana schiebt. Unternehmensgründer Nick Guida kann auf eine langjährige Erfahrung in der Luftfahrt zurückblicken, unter anderem arbeitete er für Boeing, Pilatus, Eclipse und die ebenfalls in Sandpoint ansässige und heute zu Daher gehörende Quest/Kodiak Aircraft.
Als Strukturingenieur sind ihm die fundamentalen Nachteile von Winglets bestens vertraut. Durch sie ändert sich die Verteilung des Auftriebs entlang der Spannweite in Richtung Flügelspitzen. Wegen der zusätzlichen Kräfte altert dort die Flugzeugstruktur schneller, zumindest bei Flugzeugen, die nicht von Anfang an für Winglets ausgelegt wurden. Werden Winglets nachgerüstet, verlagert sich die Lastverteilung über den Flügel zu dessen Spitzen hin und führt dort zu höheren Belastungen als jene, für die der Flügel ursprünglich optimiert wurde. Deshalb muss die Struktur in diesem Fall normalerweise verstärkt werden. Was an Effizienz durch weniger Widerstand gewonnen ist, wird durch das entstehende Mehrgewicht zum Teil wieder aufgefressen.
Neue Tamarack Steuerfläche namens Active Camber Surface
Tamarack-Gründer Nick Guida fand das nicht zufriedenstellend. Er entwickelte die Idee, die Verstärkung des Flügels überflüssig zu machen, indem man das Winglet mit einer automatischen Böenlastminderung kombiniert: Gleich neben dem Winglet befindet sich eine kleine, Tamarack Active Camber Surface genannte Steuerfläche. Sobald ein Sensor in der zentralen Steuereinheit im Rumpf eine Vertikalbeschleunigung von mehr als 1,25 g registriert, schlägt sie nach oben oder unten aus. Dadurch erhöht oder verringert sich der Auftrieb im Bereich der Flügelspitze.
Das Winglet wird also quasi für einen kurzen Moment ausgeschaltet, die Last durch eine Böe oder ein abruptes Steuermanöver neutralisiert. Das System arbeitet so gut, dass Businessjets vom Typ Cessna Citation CJ, die mit dem Tamarack-System ausgerüstet sind, ein bis zu 400 Kilogramm höheres Maximum Zero Fuel Weight (MZFW) haben, was in der Praxis zu einer höheren Zuladung führt. Ein angenehmer Nebeneffekt ist der höhere Komfort für Passagiere bei turbulentem Wetter.
Bei einem Ausfall des neuen Systems leuchtet eine Warnleuchte auf
Das System ist sehr einfach aufgebaut. Es besteht aus dem Winglet mit der Steuerfläche und der zugehörigen Antriebseinheit sowie der zentralen Steuereinheit, die im Rumpf untergebracht ist. Das System testet sich ununterbrochen selbst. Bei einem Ausfall leuchtet im Cockpit eine Warnleuchte auf. Selbst wenn ein manueller Reset nicht möglich ist, kann der Pilot den Flug mit reduzierter Geschwindigkeit fortsetzen.
Am 30. November 2018 stürzte am Clark Regional Airport in Jeffersonville, Indiana eine mit Active Winglets ausgerüstete Cessna 525A drei Minuten nach dem Start ab. Die NTSB kam in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, eine Fehlfunktion dieses ATLAS (Active Technology Load Alleviation System) genannten Systems sei die wahrscheinliche Unfallursache. Das Unternehmen bestreitet dies energisch und hat wegen Ungereimtheiten im Abschlussbericht im Januar eine formelle Petition zur Überprüfung des Untersuchungsergebnisses eingereicht. Das unmittelbar nach dem Unfall ausgesprochene Startverbot für die 91 mit den Tamarack-Winglets ausgerüsteten CJs wurde sieben Monate später wieder aufgehoben.
Ein Flugzeug mit Active Winglets braucht weniger Startbahnlänge
Bei einem Vergleichsfliegen zwischen zwei CJs demonstrierte Tamarack die Vorzüge seiner Active Winglets. Während die Maschine mit Winglets die 2500 Kilometer lange Strecke von Portland in Maine nach Palm Beach in Florida in einem Rutsch bewältigte, musste die andere einen Tankstopp einlegen. Die umgerüstete Maschine war damit eine Stunde früher am Ziel – und hatte 28 Prozent weniger Treibstoff verbraucht. Ein Extrembeispiel freilich, da die Flugstrecke nahe an der maximalen Reichweite der Jets lag und so die serienmäßig ausgestattete Maschine einen zusätzlichen Tankstopp einlegen musste – ein anschließender spritintensiver Steigflug auf Reiseflughöhe inklusive.
Der Vorsprung bei Reisezeit und Wirtschaftlichkeit beruht auch darauf, dass ein nachgerüsteter Jet bis auf Flugfläche 410 (12 500 Meter) steigen kann, ohne zwischendrin auszuleveln. Einer serienmäßigen Citation geht schon 1500 Meter tiefer die Puste aus. Zu weiteren Vorteilen gehören eine höhere Zuladung und höhere Stabilität im Anflug. Weil ein Flugzeug mit Active Winglets weniger Startbahnlänge benötigt und nach dem Abheben auch einen höheren Steiggradienten hat, kann es mehr Flugplätze benutzen. Davon profitieren auch Betreiber wie der europäische Tamarack-Kunde Air Charter Scotland.
Tamarack arbeitet an der Zertifizierung seiner Technoligie für die Beech King Air
Rund 150 Citations (Stand Juli 2022) von der CJ1 bis zur CJ3+ hat das Unternehmen inzwischen seine aktiven Winglets verpasst, drei Viertel davon in Sandpoint, den restlichen in Aiken, South Carolina und Oxford, England. Zehn Tage dauert eine Umrüstung einschließlich Lackierung. Die Investition, die je nach Flugzeug zwischen 230 000 und 300 000 US-Dollar beträgt, macht sich angesichts hoher Treibstoffpreise schnell bezahlt, von der Entlastung der Umwelt einmal ganz abgesehen.
Inzwischen arbeitet das Team von Tamarack an der Zertifizierung seiner Technologie für die Beech King Air. Als nächstes könnten die Lockheed C-130J Hercules des amerikanischen Militärs folgen. Sie würden durch die Active Winglets nicht nur weniger Treibstoff verbrauchen, sondern auch die Flugzeugstruktur entlasten. Bislang ist bei ihnen alle sechs Jahre ein sehr aufwändiger Austausch des Flügelmittelkastens erforderlich. Diese Intervalle plant Tamarack zeitlich zu strecken, womit sich der Einbau des Systems in nur drei Jahren bezahlt machen soll.
Tamarack sucht Investoren – keine einfache Aufgabe
Und dann ist da noch die riesige Flotte an Boeing 737-800, -900 sowie A320ceo, die nach Berechnungen des Unternehmens durch eine Umrüstung 15 Prozent weniger Treibstoff verbrauchen würden. Sie wären damit ebenso sparsam wie eine A320neo oder die 737 MAX. Bei einem durchschnittlichen Verbrauch von rund 2,5 Tonnen pro Stunde wären das pro Flugzeug satte 12 000 Tonnen pro Jahr oder eine Entlastung der Umwelt in Höhe von 15 000 Tonnen CO2.
Derzeit wirbt Tamarack bei Investoren Geld ein. Doch Firmengründer Guida weiß, wie schwer es ist, gute Ideen bei den Großen der Branche zu platzieren. Aber der Druck, Treibstoff zu sparen und die CO2-Emissionen zu senken, hat die Rahmenbedingungen und somit die Chancen für Tamarack womöglich verändert.
Autor: Heinrich Großbongardt