Australien, Thailand und Südafrika sind weit weg, und wegen Corona sind solche Länder noch weiter entrückt als sonst. Was macht es mit dem Fernweh, wenn die Ferne unerreichbar ist? Die Ferne war so nah. Ob Mexiko, die USA, Kenia, Vietnam oder Neuseeland: All diese Länder liegen eigentlich nur ein paar Flugstunden entfernt, doch nun sind sie […]

Australien, Thailand und Südafrika sind weit weg, und wegen Corona sind solche Länder noch weiter entrückt als sonst. Was macht es mit dem Fernweh, wenn die Ferne unerreichbar ist?

Die Ferne war so nah. Ob Mexiko, die USA, Kenia, Vietnam oder Neuseeland: All diese Länder liegen eigentlich nur ein paar Flugstunden entfernt, doch nun sind sie für Touristen vorerst unerreichbar. Fast alle Grenzen wurden wegen Corona erst einmal geschlossen. Was macht das mit unserem Fernweh?

«Vor Corona habe ich Fernweh als ein rein positives Phänomen empfunden, eine Gedankenflucht im Alltag, ein Reise-Tagtraum, den man aber ganz konkret umsetzen konnte», sagt Elisaveta Schadrin-Esse. «Während Corona habe ich die frustrierende Reisesehnsucht kennengelernt, die Sehnsucht nach der Fremde, die von außen in Schranken gewiesen wird und zumindest vorübergehend unerfüllt bleiben muss.» Das aktuelle Gefühl sei für sie daher kein Fernweh. «Der Unterschied liegt für mich in der Freiwilligkeit des Daheimbleibens.»

Schadrin-Esse weiß, wovon sie spricht: Sie ist Herausgeberin und Chefredakteurin des Reisemagazins «The Fernweh Collective» aus Berlin. «Als ich die Idee zum Magazin hatte, war ich Ende zwanzig und von Dauerfernweh geplagt», erzählt sie. Vielen ihrer Freunde, die als Schreiber und Fotografen für das Heft arbeiten, ging es ähnlich.

Das neue Fernweh: Ausgang ungewiss

Es ist eine diffuse Gemütsregung, die Reisende unter den Vorzeichen einer globalen Pandemie derzeit neu ausloten: Fernweh.

Schadrin-Esse gibt folgende Definition: «Fernweh ist für mich die Sehnsucht nach der Fremde, nach Eindrücken und Empfindungen, die so nicht in der eigenen Kultur und Region gemacht werden können, gepaart mit der Vorfreude darauf, diese Sehnsucht irgendwann tatsächlich durch eine Reise zu stillen.» Diese Aussicht ist nun ungewiss.

Doch wie viel Ferne braucht es überhaupt für das Fernweh? Es lasse sich nicht durch die Distanz zum Wohnort beschreiben, sagt die Magazin-Chefin, eher durch eine Andersartigkeit des Erlebens. «Daher würde ich vermuten, dass Fernweh nach Hiddensee oder Tirol für in Deutschland Lebende eher untypisch sind.» Heimische Regionen zu bereisen, würde sie eher als Lust am lokalen Entdecken betrachten. «Es ist das Gegenteil von Fernweh», sagt Schadrin-Esse.

Echtes Fernweh ist demnach eher der Hunger nach anderen, fremden Lebenswelten, die in der Vorstellung der meisten Reisenden wohl eher weit weg zu finden sind. Je ferner, desto besser.

Exotische Traumbilder

«Es waren die Naturforscher des 18. und 19. Jahrhunderts, die im Geist der Aufklärung die Vorstellung von den „Primitiven“, „Wilden“ und „Barbaren“ in der Ferne durch die Bezeichnung „Naturvölker“ ersetzten», erklärt der Tourismusforscher Horst Opaschowski. Plötzlich sei die Geringschätzung und Verachtung der Einheimischen in höchste Bewunderung umgeschlagen.

«Die Ursprünge des modernen Ferntourismus wie Südsee-, Karibik- und Afrikareisen liegen in dieser Zeit», sagt Opaschowski. «Tropik, Exotik und Karibik prägen die Sehnsucht der Deutschen nach fernen Zielen bis heute.» Doch es dauerte eine lange Zeit, bis solche fernen Destinationen für Urlauber tatsächlich greifbar wurden.

Zwischen Nische und Massenphänomen

In den 1950er und 1960er fuhren die allermeisten mit dem Auto oder dem Zug in den Urlaub. Der Pauschaltourismus mit Charterflügen entwickelte sich in den 1970er-Jahren, doch die Reiseziele lagen vor allem am Mittelmeer, in Spanien etwa oder Griechenland. Florida, die Karibik, Hawaii, Thailand und Ceylon (Sri Lanka) blieben exotisch.

Bis heute machen Fernreisen nur einen kleinen Teil aller Urlaubsreisen aus. Im Jahr 2019 waren es laut FUR-Reiseanalyse 8,4 Prozent – wobei das, gemessen am gesamten Reiseaufkommen, schon wieder gar nicht so wenig ist. Reisen etwa nach New York, Südafrika, Thailand oder Bali sind hierzulande keine Rarität mehr.

Obwohl die Ferne näher gekommen und erschwinglicher geworden ist, wurde sie dennoch nicht entzaubert, findet Opaschowski: «Der Ferntourismus ist nach wie vor das gekaufte Paradies» – ein Ideal, also ein verklärter Ort: «Sonne, Sand, Strand, Sonnenliegen und ganz im Hintergrund ein paar Einheimische als Kulisse», so der Forscher. «Sie sollen eigentlich nicht zu nah kommen.»

Was die Zukunft bringt

Ob das Fernweh stark genug ist, damit die Urlauber sofort wieder nach Nordamerika, Asien oder Afrika fliegen, sobald die Pandemie abklingt? Das wird sich zeigen müssen.

«Die selbsternannten Reiseweltmeister müssen grundlegend umdenken», glaubt Opaschowski. «Ihnen wird bewusst, dass in Corona-Krisenzeiten ferntouristische Ziele nicht mehr so einfach käuflich sind.» Manche würden wohl auch über einen neuen Lebens- und Reisestil nachdenken und seltener und weniger in die Ferne reisen, schätzt der Tourismusexperte. «Die Statusmerkmale des Reisens müssen vielleicht neu bestimmt werden. Auch die Bereisten gehen in sich.»

Schadrin-Esse hat persönlich nicht den Eindruck, dass sich die empfundene Ferne für andere Kontinente verändert hat. «Das Gefühl ist nicht, dass die Länder ferner sind, sondern dass ich als Individuum von der Welt abgeschnitten bin.» Und wohin soll es gehen, wenn die Pandemie vorbei ist? «Nach Sansibar.»

dpa