Ein halbes Jahr nach dem Flugverbot: Was wird aus Boeings 737 Max?
Seattle, 13. September 2019 Vor sechs Monaten wurde Boeings Verkaufsschlager 737 Max weltweit mit Flugverboten belegt. Zwei Abstürze binnen kurzer Zeit haben das Vertrauen in die Maschinen tief erschüttert. Noch immer ist unklar, ob und wann die Unglücksflieger wieder abheben dürfen. Zwei Abstürze des bestverkauften Flugzeugmodells 737 Max haben den Luftfahrt-Giganten Boeing vom erfolgsverwöhnten Weltmarktführer […]
Seattle, 13. September 2019
Vor sechs Monaten wurde Boeings Verkaufsschlager 737 Max weltweit mit Flugverboten belegt. Zwei Abstürze binnen kurzer Zeit haben das Vertrauen in die Maschinen tief erschüttert. Noch immer ist unklar, ob und wann die Unglücksflieger wieder abheben dürfen.
Zwei Abstürze des bestverkauften Flugzeugmodells 737 Max haben den Luftfahrt-Giganten Boeing vom erfolgsverwöhnten Weltmarktführer zum Krisenfall gemacht. Ein halbes Jahr nachdem die Unglücksflieger weltweit mit Startverboten belegt wurden, bleibt die Ungewissheit groß. Wann darf die 737 Max wieder abheben? Klar ist bislang nur: Je länger sich die Wiederzulassung hinzieht, desto prekärer und teurer wird es. Das gilt für Boeing, aber auch für Airlines und Zulieferer – kurz: die gesamte Luftfahrtindustrie.
Vor dem Boeing-Werk in Renton nahe der US-Westküstenmetropole Seattle im Bundesstaat Washington ist das Debakel inzwischen nicht mehr zu übersehen. Selbst auf dem Mitarbeiterparkplatz stehen nagelneue 737-Max-Jets, die nicht an Kunden ausgeliefert werden können. Boeing hat die 737-Produktion im Zuge der Flugverbote zwar um 20 Prozent gedrosselt, trotzdem werden in der Hoffnung auf eine rasche Wiederzulassung weiter rund 42 Maschinen pro Monat gefertigt. Die müssen nun in Renton und andernorts zwischengelagert werden.
Für Boeing bedeutet der erzwungene Auslieferungsstopp somit nicht nur massive geschäftliche Einbußen, sondern auch großen logistischen Aufwand. Laut US-Medien braucht das Unternehmen vorübergehend Hunderte von zusätzlichen Mitarbeitern, die sich um Zwischenlagerung und Instandhaltung der Flugzeuge kümmern. Ein Boeing-Sprecher wollte sich dazu nicht konkret äußern. Doch auf der Job-Website des Konzerns befinden sich etliche entsprechende Angebote. Dabei sind die bisherigen Kosten für Boeing ohnehin schon immens.
Allein im zweiten Quartal brockte das 737-Max-Debakel dem Airbus-Rivalen einen Rekordverlust von 2,9 Milliarden Dollar (2,6 Mrd Euro) ein. Der Umsatz fiel um 35 Prozent auf 15,8 Milliarden Dollar. Boeings gesamte Schadensbilanz seit den im März verhängten Flugverboten belief sich laut dem Finanzdienst Bloomberg bereits Ende Juni auf 8,3 Milliarden Dollar. Entlastung gab es seitdem nicht, im Gegenteil: Es kamen weitere Klagen, Konflikte und Probleme hinzu, die eine Wiederzulassung der 737 Max eher noch weiter verzögern dürften.
Als entscheidende Ursache der Flugzeugabstürze in Indonesien und Äthiopien, bei denen im Oktober und März insgesamt 346 Menschen starben, gilt eine fehlerhafte Steuerungssoftware von Boeing. Der Hersteller steht im Verdacht, die 737 Max unter hohem Konkurrenzdruck durch den europäischen Erzrivalen Airbus überstürzt auf den Markt gebracht und dabei die Sicherheit vernachlässigt zu haben. Boeing bestreitet dies, hat jedoch verschiedene Pannen und Fehler eingeräumt. In den USA gibt es zahlreiche Klagen und Ermittlungen, ob bei der Zertifizierung der 737 Max alles mit rechten Dingen zuging.
Da wegen der ursprünglichen Zulassung der Krisenjets auch die US-Luftfahrtbehörde FAA in der Kritik steht, könnte es weltweit zu Unstimmigkeiten kommen, wann die Maschinen wieder abheben dürfen. Bislang wurde international die US-Linie befolgt, doch diesmal könnte es Widerstand geben. Kein Wunder: Die FAA soll wichtige Prüfungen bei der 737 Max zunächst Boeing selbst überlassen haben. Ob die Behörde ihre Pflichten verletzt hat, ist Gegenstand von Ermittlungen. Fest steht: Viel Vertrauen ist schon verloren. Alexandre de Juniac, Chef des Weltairline-Verbands IATA, äußerte sich jüngst «beunruhigt und enttäuscht» vom Mangel an Einigkeit zwischen den Aufsichtsbehörden.
Die in Sachen Boeing stets gut informierte «Seattle Times» und die britische BBC berichteten übereinstimmend über Kritik der europäischen Luftfahrtbehörde EASA am Wiederzulassungsprozess. Demnach gehen den Europäern die von Boeing in Aussicht gestellten Upgrades der 737 Max nicht weit genug – die EASA wolle eigene Tests durchführen, bevor sie grünes Licht gibt. Trotz aller Ungewissheit geht Boeing-Chef Dennis Muilenburg weiter davon aus, dass die Unglücksflieger im November wieder in Betrieb genommen werden könnten. Es gebe «gute, solide» Fortschritte bei den geplanten Software-Updates der 737 Max, sagte Muilenburg am Mittwoch.
Doch der Rest der Luftfahrtbranche macht sich für eine längere Zwangspause bereit. Die US-Fluggesellschaften United und American Airlines haben die 737 Max vorsorglich bis in den Dezember hinein aus den Flugplänen gestrichen, Southwest Airlines bis Anfang Januar. Auch wenn sich die Unternehmen um Ersatz bemühen, fallen zahlreiche Flüge aus. Mittlerweile ächzt die gesamte Luftfahrtindustrie unter der Boeing-Krise und belastet damit zunehmend die US-Wirtschaft. Auch Zulieferer wie Spirit AeroSystems und General Electric bekommen die Misere zu spüren. Die Folgen der Startverbote haben die jährliche US-Wachstumsrate nach Berechnung des Analysehauses Capital Economics im zweiten Quartal bereits um 0,25 Prozentpunkte verringert.
An Boeing hängen zahlreiche Arbeitsplätze und viel Wirtschaftskraft, deshalb wäre es auch für die US-Konjunktur von hoher Bedeutung, dass der Krisenflieger 737 Max wieder in die Luft gebracht wird. Doch Boeings Vorstandschef Muilenburg hat die Öffentlichkeit auf weitere Rückschläge vorbereitet. Sollte eine Wiederzulassung der Jets länger als geplant dauern, könnte die Produktion weiter gekürzt oder sogar komplett ausgesetzt werden, warnte der Spitzenmanager schon im Juli. Als großen Gewinner von Boeings Debakel ließe sich leicht Erzrivale Airbus ausmachen. Tatsächlich scheint bereits sicher, dass die Europäer dem US-Konzern 2019 erstmals seit Jahren wieder den Titel als größter Flugzeugbauer der Welt abnehmen werden.
Dennoch wäre es kurzsichtig anzunehmen, dass Airbus großen Gefallen an den Problemen des Kontrahenten findet. So hält sich der Spielraum, in dem der Konzern von Boeings Schwäche profitieren kann, ohnehin in Grenzen. Die Unternehmen bilden ein Duopol im Flugzeugmarkt und sie sind beide auf Jahre ausgebucht, sodass Kunden kaum Alternativen haben. Wer seine 737-Max-Bestellung bei Boeing storniert, müsste sich bei Airbus ganz hinten anstellen und jahrelang auf Flugzeuge warten. Und auch grundsätzlich kann Airbus eigentlich kein Interesse dran haben, dass die Branche dauerhaft in Schwierigkeiten gerät – besonders wenn es um das Vertrauen ins Fliegen an und für sich geht.
Während Boeing und andere Unternehmen nach den Abstürzen noch ihre finanziellen Belastungen kalkulieren, bleiben das menschliche Leid und die Trauer der Angehörigen unermesslich. In Äthiopien haben die Behörden die Identifizierung der Opfer abgeschlossen. «Uns ist es gelungen, die Leichenteile der Opfer innerhalb von zwei Monaten zu identifizieren», heißt es in einer in Addis Abeba veröffentlichten Erklärung der zuständigen Untersuchungskommission. Insgesamt wurden demnach 8185 Trümmerstücke, Leichenteile, Dokumente, Taschen und andere Gepäckstücke am Unfallort eingesammelt und akribisch unter die Lupe genommen. An der Untersuchung war auch Interpol beteiligt. Nach deren Angaben waren unter den Opfern Passagiere und Besatzungsmitglieder aus 35 Ländern.
Hannes Breustedt, dpa