„Mr. Putin, bringen Sie meine Kinder nach Hause“
Amsterdam/London, 20. Juli 2014 Gezerre um Leichen, Wühlen in Koffern: Die Angehörigen der 298 Opfer des Flugzeugabsturzes in der Ukraine sind entsetzt. Wut und Verzweiflung schieben sich vor die Trauer. Ein stillstehender Zug. In gekühlten Waggons warten die menschlichen Überreste der Opfer auf den Abtransport. Am Wegesrand liegen schwarze Leichensäcke in der sengenden Sonne, auf […]
Amsterdam/London, 20. Juli 2014
Gezerre um Leichen, Wühlen in Koffern: Die Angehörigen der 298 Opfer des Flugzeugabsturzes in der Ukraine sind entsetzt. Wut und Verzweiflung schieben sich vor die Trauer.
Ein stillstehender Zug. In gekühlten Waggons warten die menschlichen Überreste der Opfer auf den Abtransport. Am Wegesrand liegen schwarze Leichensäcke in der sengenden Sonne, auf dem Trümmerfeld geöffnete Taschen der Reisenden. Für die Angehörigen der Passagiere und der Crew der in der Ostukraine abgestürzten Malaysia-Airlines-Boeing sind es unerträgliche Bilder.
Auf Trauer und Schock folgen Verzweiflung und Wut. Wann kommen unsere Angehörigen endlich nach Hause, fragen sich die Familienmitglieder der 298 Opfer auch heute. Es ist der vierte Tag nach dem verheerenden Absturz von Flug MH17.
In den Niederlanden, aus denen 193 Opfer kamen, herrscht ohnmächtiges Entsetzen. Zum Ausdruck kommt es im Aufschrei von Silene Frederiksz, sie verlor ihren 23-jährigen Sohn Bryce und seine Freundin Daisy. Beide waren auf dem Weg in den Urlaub auf Bali. „Mr. Putin. Bringen Sie meine Kinder nach Hause,“ flehte die Mutter aus Rotterdam im niederländischen Fernsehen in Richtung des russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Die Vorstellung, dass die sterblichen Überreste ihrer Liebsten seit Tagen irgendwo liegen, dass sie hin- und hergeschleppt werden, ist für sie unerträglich. „Es ist respektlos, mir fehlen die Worte.“
Bilder von plündernden Rebellen und auch von Journalisten, die in Koffern der Toten wühlen, entsetzen auch Ruud Lahaye aus Maastricht. Er verlor seinen Bruder John (54) und dessen Freundin Lilian. „Wir können hier total nichts tun. Es dauert sicher noch sechs Wochen, bevor wir sie zurückbekommen. Erst dann können wir an eine Beerdigung oder einen Abschiedsgottesdienst denken.“
Schlagartig wird vielen auch bewusst, dass ihre Kinder, Eltern oder Freunde Opfer eines fernen Krieges wurden. Hans de Borst, Vater der 17-jährigen Schülerin Elsemiek, schrieb einen emotionalen Brief an Putin, die ukrainische Regierung und die prorussischen Rebellen: „Danke für die Ermordung meines einzigen und lieben Kindes. Plötzlich ist sie nicht mehr da. Aus der Luft geschossen. In einem fremden Land, in dem Krieg herrscht.“
Ähnliche Gefühle bewegt auch die Angehörigen der zehn britischen Opfer. „Was zur Hölle ist da los? Dass die Rebellen die Leichen mitgenommen haben, macht mir Angst“, sagte Hugo Hoare, dessen Bruder in dem Flugzeug saß, dem „Daily Telegraph“. „Das erste was mir in den Sinn kam, war, was, wenn sie diese als Druckmittel bei Verhandlungen nutzen?“
Barry Sweeney, dessen 28 Jahre alter Sohn Testspiele seines Lieblings-Fußballvereins Newcastle United in Neuseeland sehen wollte, sagte dem „Daily Mirror“: „Die Berichte über das, was dort passiert, machen mich krank. Ich will einfach nur meinen Liam zurück.“ Vor allem die Bilder der Leichensäcke seien unerträglich. „Aber ich hoffe, dass Liam in einem liegt.“
Die Last für die Familien und Freunde sei unbeschreiblich, erläuterten Psychologen im niederländischen Radio. Solange ihre Liebsten nicht zurückgekehrt seien, könne auch der Trauerprozess nicht beginnen. „Das Gezerre mit den Leichen hilft nicht und ist sehr respektlos“, sagte Harry Crielaars von der niederländischen Opferhilfe im Radio. Entscheidend für die Verarbeitung des Verlustes sei auch die lückenlose Aufklärung.
Doch die Untersuchung der Ursachen des Absturzes ist längst Zündstoff eines internationalen Konflikts. Viele fürchten, dass das menschliche Schicksal zur Nebensache wird. Jede Art der Anerkennung kann dem entgegenwirken, sagen Trauma-Experten. Zeitungen, die Fotos der Opfer veröffentlichen, und öffentliche Zeugnisse von Mitgefühl – wie etwa das Treffen der Angehörigen mit König Willem-Alexander und Königin Máxima heute.
Die Tageszeitung De Volkskrant veröffentlichte eine Mail und ein Foto. Das Selfie eines lachenden jungen Paares kurz vor dem Abflug aus Amsterdam. Karlijn Keijzer (25) und ihr Freund Laurens van der Graaf (30) freuten sich auf den Urlaub in Indonesien. „Das einzige, worum ich Sie bitte“, schrieb Karlijns Bruder Rutger der Zeitung: „Zeigen Sie bitte den Niederlanden und der Welt, welchen Schmerz ich, meine andere Schwester und meine Eltern jetzt durchmachen. Dies ist der Schmerz von Hunderten Niederländern.“